Zum 100. der Mumins-Erfinderin Tove Jansson: Mutter der Anarcho-Trolle
Sie erfand die Mumins: An diesem Sonnabend wäre die finnische Autorin, Malerin und Comiczeichnerin Tove Jansson 100 Jahre alt geworden.
Es gibt in Tove Janssons sechsten Mumin-Buch „Winter im Mumintal“ einen schönen Satz, der das gesamte Leben der 2001 verstorbenen finnischen Künstlerin auf den Punkt bringt. „Alles ist sehr ungewiss, und das finde ich beruhigend“, sagt darin die erstmals in einem Mumin-Band auftauchende Too-ticki zu Mumin. Der ist gerade unvermutet aus dem Winterschlaf aufgewacht, „etwas, das noch nie geschehen war“, und kann nicht wieder einschlafen. Plötzlich muss er sich in einer für ihn ungewohnten Winterlandschaft zurechtfinden, zunächst auf sich allein gestellt, denn der Muminvater und die Muminmutter schlafen und können ihm nicht zur Seite stehen. Später helfen ihm die Kleine Mü und Too-ticki durch das gröbste Ungemach. Tove Jansson versinnbildlicht in dem Buch schön, wie es ist, erwachsen zu werden und sich die Welt und man selbst in ihr ständig verändert, und das begleitet einen ja auch durchs ganze Erwachsenenleben.
Als Jansson Mitte der fünfziger Jahre „Winter im Mumintal“ schrieb, hatte sie sich an die Ungewissheiten, an die Auf und Abs in ihrem privaten wie beruflichen Leben womöglich derart gewöhnt, dass sie diese als beruhigend empfinden konnte. Zumal sie, nachdem sie sich als Karikaturistin, Illustratorin, Malerin und Autorin lange schon auch außerhalb Finnlands einen Namen gemacht hatte, erstmals eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit genoss: Seit 1954 erschienen von ihr in der britischen Zeitung „Evening News“ regelmäßig Mumin-Comicstrips, die ihr ein festes Einkommen bescherten und sie erstaunt die „Sicherheit und Freude“ registrieren ließ, „am Anfang jeden Monats zur Bank gehen und seinen Lohn abholen zu können, der dort in immer gleicher Höhe wartet“
Tove Jansson war vielseitig, privat wie künstlerisch
Auch politisch begann in Finnland nach unruhigen, entbehrungsreichen Kriegsjahren eine Phase der Sicherheit und Stabilität, die Jansson so noch nicht kannte, bei aller familiären Geborgenheit, in der sie mit zwei jüngeren Brüdern aufwuchs. Geboren wurde sie kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 9. August 1914 in Helsinki, als Tochter des Bildhauers Viktor Jansson und der Illustratorin Signe Hammarsten-Jansson, beides Anghörige der schwedischsprachigen Minderheit Finnlands.
1918 erlebte sie schon als Kind den finnischen Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit von Russland 1917 mit und die schwierigen Jahre danach. Die wirtschaftliche Situation ihrer Künstler-Eltern war stets prekär, wenn gleich der Vater in den zwanziger Jahren von der siegreichen „weißen“, der bürgerlichen Seite Aufträge für Heldendenkmäler und Grabmonumente bekam. Klar war jedoch immer, dass Tove Jansson selbst einmal Künstlerin werden sollte. Von 1931 bis 1933 lernte sie das Zeichnen an der Technischen Schule in Stockholm, woran sich drei weitere Jahre in der Malklasse des Kunstvereins in Helsinki und Aufenthalte in Paris anschlossen.
Der Krieg aber blieb in den folgenden Jahren ihr steter Begleiter: der finnisch-sowjetische Winterkrieg 1939/40, der Fortsetzungskrieg gegen die Sowjetunion sowie der Lappland-Krieg dann gegen die Nazis. Jansson entwickelte sich in dieser Zeit als Malerin und Illustratorin, und vor allem ihre politischen Zeichnungen für die Satirezeitschrift „Garm“ in den dreißiger- und vierziger Jahren sorgten für Aufsehen. Das waren oft gewagt-provokative Hitler- und Stalin-Karikaturen, die im krassen Gegensatz zu dem von ihr zu der Zeit bevorzugt gemalten Blumenstillleben standen.
Diese Vielseitigkeit sollte sich auch im weiteren Verlauf ihres Lebens als Hauptcharakteristikum zeigen, privat wie künstlerisch. Hatte sie sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck der unvollendeten Karriere ihrer Mutter stehend, schon in den Liebesbeziehungen mit Männern stets eine freiheitsbewahrende Distanz gewahrt, wandte sie sich nach dem Krieg zunehmend ganz offen dem eigenen Geschlecht zu, unbeeindruck von der Homophobie der finnischen Gesellschaft, in der Homosexualität bis Anfang der siebziger Jahre verfolgt wurde und unter Strafe stand.
Und sie entdeckte das Schreiben als Profession – womöglich um den Schrecken der Kriegszeit zu entkommen und sich in der bunten Phantasiewelt der Mumins neu zu orientieren. „Obwohl ich in meinem tiefsten Innern Malerin bin, fühlte ich mich Anfang der vierziger Jahre, während des Krieges, so verzweifelt, dass ich anfing, Märchen zu schreiben“, äußerte sie später einmal, als sie kaum noch als bildende Künstlerin, sondern viel mehr als Autorin und Mumins-Erfindern in vielen Teilen der Welt gefeiert wurde. Ihre freundlich-drolligen, großköpfig- weichen, vage an Nilpferde erinnernden Figuren und deren Abenteuer mögen aus einem eskapistischen Impuls entstanden sein, die ersten Mumins-Bände „Mumins lange Reise“ und „Komet im Mumintal“.
Die Mumins-Geschichten sind unheilvoll, aber auch tröstlich
Trotzdem wohnt fast allen Mumins-Geschichten etwas Anarchisches und Subversives inne, sind diese immer ein bisschen unheilvoll, ein bisschen gruselig, aber auch tröstlich. Das Paradies, das Tove Jansson hier kreiert hat, wird immer wieder bedroht von Unwettern, Sturmfluten oder Kometen, und die Mumins, insbesondere der Mumin-Vater, sind oft einfach nur so unruhig und auf Achse, das gehört für sie zum Leben dazu. Ständig glauben sie, sich neu zu erfinden zu müssen, ständig müssen sie sich wieder neu einrichten. In so einer Welt können sich dann Kinder und Erwachsene genauso wiederfinden wie verlieren.
1970 erschien das letzte Mumin-Buch, „Herbst im Mumintal“. Tove Janson verlegte sich danach gleichermaßen auf das Malen wie das Schreiben von vornehmlich an Erwachsene gerichtete Non-Mumin-Bücher, beginnend mit dem autobiografischen, aber fiktiv organisierten Kindheitserinnerungen „Der Tochter des Bildhauers“. Schön schwebend, manchmal traumverloren, manchmal rätselhaft ist Janssons Prosa hier, ähnlich wie in den Mumins-Büchern. Und noch in einem ihrer letzten, jetzt auf Deutsch veröffentlichten Bücher, in „Fair Play“, erkennt man, wie tief die Kunst in Janssons Dasein verwurzelt war. Wie sehr für sie vor der Liebe und dem friedvollen Alltagsleben immer die Arbeit kam. „Fair Play“ erzählt in kurzen Kapiteln von dem Zusammenleben zweier älterer Künstlerinnen, in der unschwer Tove Jansson selbst und ihre jahrzehntelange Lebensgefährtin Tuulikki Pietalä zu erkennen sind: „Sie fragten einander nie: Hast du heute arbeiten können? Vielleicht hatten sie das vor zwanzig, dreißig Jahren gefragt, hatten aber nach und nach gelernt, es bleiben zu lassen. Es gibt Leerräume, die respektiert werden müssen; die oft sehr langen Perioden, wenn man das Bild nicht sieht, die Worte nicht findet und in Ruhe gelassen werden muss.“
Es ist seltsam, dass die Mumins sich zwar zu einem globalen, popkulturellen Phänomen entwickelt haben, von den USA über Skandinavien bis vor allem Asien, in Deutschland aber nur mäßig bekannt sind – da passt es gut, dass sich Finnlands Gastlandauftritt auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und Janssons 100. Geburtstag zeitlich überschneiden. Eine schöne Gelegenheit also, die Mumins zu entdecken – aber auch eine Künstlerin, deren überbordende Kreativität beeindruckt. Und deren Leben an ein frühes postfeministisches Rollenmodell erinnert, so selbstbewusst, eigensinnig und emanzipiert war Tove Jansson einerseits, so wenig verbohrt und übertrieben sendungsbewusst andererseits.
Im Stuttgarter Verlag Urachhaus sind gerade Tove Janssons Bücher „Die Tochter des Bildhauers“ und „Fair Play“ in der Übersetzung von Birgitta Kicherer erschienen; dazu Tuula Karjalainens Jansson-Biografie, aus dem Finnischen übersetzt von Anke Michler-Janhunen und Regine Pirschel, 352 S., mit vielen Abbildungen., 36 €. Eine Tove-Jansson-Ausstellung im Atenäum in Helsinki läuft noch bis zum 7. September
Gerrit Bartels
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