Kolumne "Spiegelstrich": Voll normal polarisiert
Corona und die Folgen: Wie schwer es ist, zur Normalität zurückzukehren. Und steckt hinter der Sehnsucht danach nicht auch die Angst vor dem Neuen?
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter:@Brinkbaeumer
Die EM 2021 nennt sich EURO 2020, als könnten wir verlorene Jahre noch einmal leben. Weniger, dafür lautere Zuschauer als vor der Pandemie sind im Stadion, und Italien schießt seine drei Tore, die früher für Turnier und Titel reichten, nun im ersten Spiel. Kaum ein Fußballer mehr, der nicht zu große zu weiße zu neue Zähne hätte.
Bastian Schweinsteiger – das Silberhaar auf den Dreiteiler abgestimmt – wird allmählich zum deutschen George Clooney.
Die Normalität also. Wir wollten sie so gern zurück.
Die Staatschefs und -chefinnen der G7 treffen sich in Cornwall, und Macron und Biden hauchen einander an, ohne Masken. Die Frauen, von der Leyen und Merkel, stehen am Rand. Ist Thronfolger Charles inzwischen älter als Königin Elizabeth? Trudeau, der Althippie, und Macron tragen coole Anzüge; nur Johnson konnte wieder keine Hosen finden, die passen.
Der Club der Macht: ohne China, Indien, Brasilien, Indonesien; mit Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, zusätzlich der EU. Diese G7 impfen und feiern darum die Rückkehr zur Normalität; auf der übrigen Erde sterben mehr Menschen an Corona als je zuvor.
Unsere Normalität endete im März 2020
Normalität: Donald Trump kündigt die neue Bibel an, „the book of all books“.
Auch normal: Der Sohn weiß, wo er drücken muss, damit seine Musik kommt. Das im Walde stehende Männlein kann nur die Hagebutte sein; und „erst kommt der Sonnenkäferpapa“, dann folgt die Sonnenkäfermama, und die Sonnenkäferkinderschar krabbelt hintendrein, klitzeklein.
Ich denke über den Stand der Genderdebatte am Beispiel des Kinderliedes nach, während wir tanzen.
Unsere Normalität endete zuletzt im New Yorker März 2020, und ich erinnere mich daran, wie ich es eigentlich wusste und nicht zuließ. Ich war noch beim Eishockey mit 20 000 Menschen, war noch trainieren im muffeligen Sportclub, wir aßen sogar noch Cheeseburger in der verschwitzt vollen Old Town Bar. Das Virus war längst da, aber Menschen können sich die Wucht exponentiellen Wachstums selten vorstellen.
Manchmal sind ganze Gesellschaften wie alte Eltern, die nicht sehen können, dass ab heute das Leben nie wieder so werden wird wie es bis gestern war. Wer Wendepunkte nicht erkennen will, handelt zu spät oder nicht mehr.
Wenn ich die Wucht beobachte, mit der Springers Kampftrupp Annalena Baerbock erledigen will, bevor der Wahlkampf beginnt, sehe ich weniger konservative Überzeugung, eher Angst – die Angst vor Neuem und auch vor den Folgen des nicht besonders komplizierten Gedankens, dass die Klimakrise nach radikalem, durchaus maßlosen, das meint im positiven Sinne gnadenlosen Handeln verlangte.
Oh. Darf das nicht sein, weil es nie so war? Soll es nicht sein, weil es so anstrengend wäre; und is' nicht mal langsam gut mit Anstrengen?
Absurd und traurig, wie Carolin Emckes Rede verdreht wird
Ich bin weder Baerbock- noch Grünen-Anhänger und finde es ziemlich dilettantisch, vor einer Kanzlerinnenkandidatur nicht zu überprüfen, ob alles versteuert ist, was zu versteuern war.
Dass im Lebenslauf eine UNHCR-„Mitgliedschaft“ stand, obwohl's die nicht gibt, ist mir egal: Welche Männer haben nie die eigene Biographie heroisiert? Herr Laschet, Herr Lindner, Herr Scholz …?
Wenn dann Carolin Emcke vor Verdrehung und Diffamierung warnt und sofort ihre Rede verdreht und die Rednerin diffamiert werden, ist's in seiner Absurdität punktuell lustig, traurig aber schon auch, weil nämlich dies die schon wieder neue Normalität sein wird.
Eine Debatte über politische Vorhaben und Möglichkeiten in heikler Zeit wäre trotzdem nützlicher als die Polarisierung des Landes.
Klaus Brinkbäumer