Filmfestspiele von Venedig: Viel Lärm am Lido
Die 75. Filmfestspiele von Venedig eröffnen mit „First Man“. Wegen starker Netflix-Präsenz steht Leiter Alberto Barbera unter Druck.
„Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit.“ Der Satz fällt in Damien Chazelles Space-Race-Drama „First Man“ nach gut zwei Stunden. Viel Zeit, um darüber nachzudenken, ob der Regisseur und sein Drehbuchautor Josh Singer wohl auf die unvermeidlichen Worte verzichten und damit den Konventionen des Biopic wenigstens einen kleinen Streich spielen würden.
Doch eigentlich wird in „First Man“ früh klar, dass Chazelle kein sonderliches Interesse daran hat, die Erwartungen des Publikums zu unterlaufen. Sein Neil-Armstrong-Biopic ist eine einzige Aneinanderreihung von Unvermeidlichem und Erwartbarem: Die Geschichte der US-Raumfahrt als Nebenschauplatz des Kalten Krieges, entlang erzählt an einer braven Familiengeschichte in der texanischen Suburbia. Ryan Gosling spielt Armstrong als gegen sich selbst und seine Kinder harten Familienvater, der den Tod seiner zweijährigen Tochter nie ganz überwunden hat. Claire Foy macht ihre Sache gut als fürsorgliche Hausfrau, die einmal gegen ihren Ehemann aufbegehren darf, als Armstrong seine Kinder ohne Abschiedsworte in Richtung Mond verlassen will. Viel mehr bekommt sie nicht zu tun.
„First Man“ ist dennoch ein effektvoller Auftakt für die 75. Filmfestspiele von Venedig. Der behäbigen Inszenierung zum Trotz hat das Gala-Publikum kaum Gelegenheit, sanft wegzunicken, dafür ist das Sounddesign von Ai-Ling Lee zu durchdringend. Es nagelt einen mit ohrenbetäubender Lautstärke im Kinositz fest. Chazelles Film erinnert in seinen besten Momenten daran, dass die Anfänge der Raumfahrt noch nicht so weit weg waren von den Abenteuern eines Jules Verne, den ein NASA-Imagefilm zitiert.
Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten
Die Gemini- und Apollo-Programme bestanden im Grunde aus einer Gruppe tollkühner Männer in ihren fliegenden Kisten. Blicke ins Cockpit offenbaren nackte Kabelbündel und klobige Armaturen, das Landefahrzeug der ersten Mondmission erinnert an einen Modellsatz aus dem Heimwerkermarkt. Skeptisch blickt Gosling einmal in die Luke seiner Raumkapsel, die nur von ein paar Schrauben und Muttern zusammengehalten zu werden scheint. Beim Start droht sie unter der Belastung fast zu zerbersten. Armstrong und die Crew der Apollo 11 wurden als amerikanische Helden gefeiert, aber genau genommen waren sie last man standing. Viele Weggefährten ließen für die NASA ihre Leben.
Für Damien Chazelle und seinen Star Ryan Gosling bedeutet „First Man“ eine Rückkehr. 2016 hatte „La La Land“ hier Weltpremiere, Venedig ebnete dem Musical den Weg zu den Oscars. Für Alberto Barbera, den künstlerischen Leiter, ist es eine Prestigefrage, Chazelle wieder am Lido begrüßen zu dürfen. Dessen Karriere begann 2014 in Cannes, aber seit „La La Land“ ist das Band mit Venedig geschmiedet. Solche Allianzen halten nicht ewig, aber sie werden in dem immer umkämpfteren Festivalzirkus von Branchenkennern heute genauso aufmerksam beobachtet wie der Transfermarkt im Weltfußball. Auch an solchen Solidaritätsbekundungen lässt sich der Status eines Filmfestivals ablesen.
Man sollte also nicht zu viel ins Programm hineininterpretieren, aber in diesem Jahr fallen zahlreiche Abwanderungen von Cannes nach Venedig auf. Mike Leighs Arbeitskampfdrama „Perterloo“ wurde von Thierry Frémaux für den Cannes-Wettbewerb abgelehnt. Der französische Palmengewinner Jacques Audiard tritt mit dem Mystery-Western „The Sisters Brothers“, in den Hauptrollen Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal, erstmals auswärts an. Auch Cannes-Lieblinge wie Olivier Assayas oder Yorgos Lanthimos debütieren in Venedig.
Erfreulich aus deutscher Sicht: die Teilnahme von Florian Henckel von Donnersmarck, der nach dem Totalflop „The Tourist“ (2010) auf die internationale Bühne zurückkehrt. Sein Künstlerporträt „Werk ohne Autor“ mit Tom Schilling, Sebastian Koch und Paula Beer basiert lose auf der Lebensgeschichte Gerhard Richters.
Venedig wird wieder zum Showroom für Netflix
Dazu kommen Neuzugänge, deretwegen die italienische Kinobranche Mostra-Leiter Barbera seit Wochen die Hölle heißt macht. Mit sechs Filmen im Wettbewerb, von namhaften Regisseuren wie den Coen-Brüdern, Paul Greengrass, Alfonso Cuaron und posthum Orson Welles, nutzt Netflix nach dem viel diskutierten Cannes-Boykott im Mai Venedig zum wiederholten Mal als Showroom. Dass zudem die zweitwichtigste Reihe „Orizzonti“ von der italienischen Netflix-Produktion „On My Skin“ eröffnet wird, schafft schlechte Stimmung. Die kriselnde italienische Filmindustrie (2017 betrug ihr Marktanteil 12,5 Prozent) macht sich Sorgen, dass die Präsenz von Netflix sie weiter schwächen könnte – auch weil der Schutz der Kinobetreiber gegen digitale Veröffentlichungen in Italien bei weitem nicht so rigide ist wie in Frankreich. Der Verband italienischer Filmemacher wies Barbera darauf hin, dass sich sein Patronat für den Streamingdienst kaum mit öffentlichen Zuschüssen vereinbaren ließe. Diplomatischer kann man eine Drohung nicht kommunizieren.
Man sollte meinen, dass das an Barbera abprallt. Er hat das Festival zu alter Größe geführt, Vorgänger Marco Mueller war eher dem Experiment zugetan. Unter Barbera konnte sogar die Schwäche, dass Venedig aus Platzmangel über keinen Filmmarkt verfügt, kompensiert werden. Hollywood lässt sich in den vergangenen Jahren wieder blicken, seit die Studios das Festival als Startbahn für die Oscar-Kampagnen entdeckt haben. Doch 2019 läuft Barberas Vertrag aus, man muss abwarten, wer das Kräftemessen gewinnt. Dass er gegen die Interessen seines Festivals handelt, kann man ihm nicht nachsagen. Greengrass oder die Coens machen sich – trotz Netflix – in jedem Programm gut.
Nur eine Frau im Wettbewerb - eine Quote lehnt Barbera ab
Umso erstaunlicher, dass Barbera ein anderes Image-Problem nicht in den Griff bekommt. Nur eine Regisseurin konkurriert dieses Jahr um den Goldenen Löwen. Die Australierin Jennifer Kent hat ihre Festivalpremiere mit dem Rachedrama „The Nightingale“. Auf Kritik reagierte der Venedig-Leiter uneinsichtig. Bevor ihm eine Frauenquote aufgedrückt werde, werde er seinen Posten räumen, echauffiert er sich – das alte Argument, dass Frauen nur aufgrund von Quote, nicht etwa wegen ihrer Qualität eingeladen werden. Dass es anders geht, zeigt das Filmfestival Toronto fast zeitgleich mit Venedig. Ein Viertel der Filme ist von Regisseurinnen, wobei Toronto nicht das Problem hat, auf Weltpremieren angewiesen zu sein.
Ein Armutszeugnis ist die Aussage allemal. 21 Prozent der Einreichungen für den Wettbewerb waren dieses Jahr von Regisseurinnen, nur Kent schaffte es. Auch hat Barbera – anders als seine Kollegen in Cannes und Locarno – bisher nicht die Charta unterzeichnet, mit der sich die großen Festivals verpflichten, auf mehr Gender-Parität zu achten. Insofern hat seine Ankündigung, 2018 wäre der beste Wettbewerb der vergangenen Dekade, einen bitteren Beigeschmack. Er ist eben genauso Ausdruck eines fundamentalen Mentalitätsproblems. Vielleicht markiert auch 2018 nur einen kleinen Schritt in der 75-jährigen Festivalgeschichte. Der große Sprung aber ist überfällig.