Der Palmen-Gewinner "Dämonen und Wunder - Dheepan": Eine Familie werden
Flüchtlingsdrama, Liebesgeschichte, Thriller: „Dämonen und Wunder – Dheepan“ ist der drastische Film zur Willkommenskultur. Regisseur Jacques Audiard setzt aber eher auf Ästhetik als auf Politik.
So realistisch. Ja, fast dokumentarisch. Wie die junge Frau, die ihre Familie im Krieg verloren hat, in der Flüchtlingszeltstadt ein Waisenmädchen auftreibt und einen Mann. Wie die drei gemeinsam – mit den Pässen einer ermordeten Familie – aufbrechen auf den langen Weg nach Europa. Wie Mannfraukind in stockfinsterer Nacht übersetzen im Boot übers Meer, einander fremd und doch bereits eine Zelle des Zusammenhalts, der Hoffnung. So aufwühlend, wie frisch der vermischten Nachrichtenwelt entnommen, geht das los. Als hätte Jacques Audiard „In This World“ noch einmal drehen wollen, die halbdokumentarische, atemlos erzählte Fluchtchronik zweier junger Afghanen, mit der der britische Regisseur Michael Winterbottom 2003 den Goldenen Bären der Berlinale im Handstreich eroberte.
Und erst die Biografie des Hauptdarstellers: Jesuthasan Antonythasan, der den tamilischen Flüchtling Dheepan spielt, war selber einst Kindersoldat der Tamil Tigers, jener Unabhängigkeitsbewegung, die in jahrzehntelangem blutigem Bürgerkrieg der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit einen eigenen Staat auf Sri Lanka abtrotzen wollte. Antonythasan floh 1993 nach Frankreich, arbeitete in Paris als Koch und Hotelpage, sogar als Hausmeister – genauso wie die Filmfigur, die er in „Dämonen und Wunder“ verkörpert. Inzwischen ist er, unter dem Namen Shobasakthi, ein bekannter Schriftsteller in Indien und Sri Lanka; in mehreren auch ins Englische übersetzten Romanen hat er seine Kriegserinnerungen verarbeitet.
So viele Fakten. So viel latente Aktualität voller Fluchtbilder, die diesen Filmstoff überwölben: Könnte ja sein, dass Jacques Audiard, der so herausragende, unverwechselbare Filme wie „Ein Prophet“ und „Der Geschmack von Rost und Knochen“ gedreht hat, abwechslungshalber unter die Reportage-, gar die Kolportagefilmer gegangen ist. Nur: Wie passen die zwischenhinein geschnittenen, dazwischenfunkelnden Irrlichterbilder vom Dschungelgrün dazu, vom Laubgeflecht, hinter dem frontal und leinwandfüllend der Kopf eines Elefanten sichtbar wird? Wer träumt da, und wenn ja, wovon?
Jacques Audiard deutet seine Metaphern nicht aus. Im Gespräch in Berlin verweist der französische Regisseur lieber immer wieder darauf, dass für ihn alles nur Anlass ist, einen „Ort des Kinos“ herzustellen. Dass ihn Wirklichkeit stets nur in dem Maß interessiert, wie er daraus die Wahrscheinlichkeit eines erfundenen Geschehens destillieren kann. Dass er gerade nicht auf die Auspinselung sozialer Zusammenhänge setzt, trotz durchaus konkreten Settings. Tatsächlich erforschte „Ein Prophet“ die Binnenhierarchie eines prototypischen Gefängnisses, so wie „Der Geschmack von Rost und Knochen“ grundsätzlich die Möglichkeit von Liebe unter widrigsten Bedingungen auslotete. Und nun erzählt „Dämonen und Wunder“ von der mühseligen Eroberung neuer Heimat. Drei Menschen werden zu einer Familie, die sich in absoluter Fremde zu behaupten lernt.
Vor allem aber sucht dieser Filmemacher, der prinzipiell sprunghaft auf der Hut vor allzu simplen Antworten ist, fast manisch das Neue. „Seit einiger Zeit bin ich besessen davon, Menschen zu zeigen, die man wenig sieht im französischen Kino. Andere Bilder, andere Ausdruckssysteme, andere Bewegungen, ein anderes Lächeln, andere Blicke, andere Sprachen.“ Auch deshalb hat er keine frankophonen, beispielsweise (nord-)afrikanischen Flüchtlingsszenarien gewählt, sondern mit Sri Lanka einen seit dem Zwangsfriedensschluss vor sechs Jahren fast schon vergessenen Ausgangsschauplatz. Es ist das Archetypische, das Audiard fasziniert: „Ich will, dass meine Bilder wie Kino aussehen und dabei durch nichts genötigt werden.“
Alles in Audiards Kino unterliegt im Zweifelsfall einem extrem ästhetischen Konzept
Wie radikal er sich die Wirklichkeit aneignet, um nicht zu sagen: unterwirft, zeigt Audiard mit der Wahl der Pariser Fantasie-Banlieue „Le Pré“, in der sein prekäres Helden-Trio landet. Dheepan arbeitet dort als Hausmeister, und während die falsche Tochter Illayal (Claudine Vinasithamby) in der Grundschule schnell Fortschritte macht, wird Yalini (Kalieaswari Srinivasan) als Köchin für einen gelähmten Mann im Wohnblock nebenan angestellt. In dieser Cité regiert lautstark eine Drogenmafia, Bewaffnete patrouillieren Tag und Nacht auf den Flachdächern – und von Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. Ganz so exterritorial ticken selbst die Brennpunkt-Banlieues kaum, weiß auch Audiard, aber „ich mag eben die Uniformen der französischen Polizei nicht, also filme ich sie nicht“. Und er fügt kategorisch hinzu: „Ordnungskräfte im Kino sind uninteressant.“
Die Jury hat ihm ihm Zuflucht zum Thriller nicht übel genommen
Alles in Audiards Kino unterliegt im Zweifelsfall einem extremen ästhetischen Konzept, und so lässt sich auch der dreifache Genre-Wechsel vom Flüchtlingsdrama über die – sehr behutsam in Szene gesetzte – Liebesgeschichte hin zum Thriller verstehen. Als Hausmeister Dheepan, den die eigene Vergangenheit als Befreiungskämpfer längst einholt, seine Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in jeder Hinsicht schwinden sieht, markiert er mit Kreide zwischen den Häusern eine „No Fire Zone“ – die Linie, hinter der auch dramaturgisch das Glücksversprechen endet und der Showdown beginnt. Doch auch hier, wo er sein Publikum in eine verzweifelte Rebellion hineinreißt, besteht Audiard auf der puren Fiktion. „Die Gewaltepisoden in meinen Filmen sind der Moment, in dem die Figuren sich entwirklichen. Man weiß, Kugeln und Schläge im Kino sind unecht. Also ist die Unverletzlichkeit des Filmhelden ohnehin kinematografisch.“
Heißt das, auch der Zuschauer findet gewissermaßen grundsätzlich nicht ins identifikatorisch befeuerte Geschehen? Im Gegenteil, „Dämonen und Wunder“, dieses Jahr in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, ist durchweg packendes Kino. Wobei ihm die Zuflucht zum schlichten Thriller zwar viele Kritiker, nicht jedoch die von den Coen-Brüdern angeführten Juroren übel genommen haben. Auch Einwänden gegenüber dem moralisch fragwürdigen, glatten Epilog entzieht sich Audiard auf seine Weise. Die letzte Filmminute spielt in London, aber wie kommt es zu der surreal tropischen Sonne? „Die Szene habe ich in Indien gedreht. In London hätte ich auf so ein Wetter bis 2050 warten können.“ Ein Öko-Witz, klar. Oder eine weitere Finte, konsequent fürs Bild arrangiert.
Ein Freiheitskämpfer, der nur noch für die Liebe kämpft: Mehr als diese – tröstliche, privatistische – Botschaft hat „Dämonen und Wunder“ im Ergebnis nicht zu bieten. Aber er kleidet sie in eine schmucklos und kraftvoll dargebotene Erzählung, die von ihren Protagonisten glaubwürdig – ja, man möchte vorsichtig behaupten: authentisch – verkörpert wird. „Dämonen und Wunder“ wirkt, wenn auch früher erdacht und fertig gedreht, wie der aktuelle Film zur Willkommenskultur, ganz auf der Seite der unzähligen Flüchtlinge, die unter schrecklichsten Umständen zusammenfinden und zusammenstehen.
Einmal aber wird Jacques Audiard doch aktuell programmatisch. „Flüchtlinge haben meist kein Gesicht, keinen Körper, keinen Namen, keine Identität – schon verrückt, dass einen erst ein totes Kind am Strand daran erinnert. Meinen Figuren gebe ich all das, auch ein Unbewusstsein. Wenn unsere Militärs aus Afghanistan oder dem Irak zurückkommen, dann kümmern sich Experten um ihre Kriegstraumata, aber wie ist es mit den Flüchtlingen, die durch ähnliche Höllen gegangen sind?“ Ein perfektes Statement, um für diesen Film zu werben. Aber bei dem impulsiv formulierenden Jacques Audiard klingt es, und das macht es noch überzeugender, als hätte er sich wieder durch einen neuen Gedanken überrascht.