Frankfurter Buchmesse: Verwurzelt in der Heimatlosigkeit
Paradies der hybriden Dichter: Die Frankfurter Buchmesse präsentiert ab Mittwoch Literatur aus Flandern und den Niederlanden.
Das Interesse an niederländischsprachiger Literatur in Deutschland ist relativ jung. Nach dem Zweiten Weltkrieg richteten deutsche Verleger nur in Ausnahmefällen den Blick auf die Niederlande und Flandern, was zweifellos mit der Nazizeit zu tun hatte. Niederländischsprachige Literatur war für die Nationalsozialisten vor allem die Heimatliteratur aus Flandern, eine Literatur, die genuin unpolitisch war, jedoch für Propagandazwecke missbraucht wurde.
Nicht alle flämischen Autoren haben sich diesem Missbrauch widersetzt. Einige sahen in Nazi-Deutschland sogar eine potenzielle Stütze des flämischen Nationalismus, der sich gegen die Vorherrschaft der französischen Sprache und Kultur in Belgien wandte. So nahm Felix Timmermans, der sich mit seinem Roman „Bauernpsalm“ einen Namen gemacht hatte, 1942 von der Hansischen Universität Hamburg den politisch belasteten Rembrandt-Preis für niederländisch-niederdeutsches Volkstum an. Auch Stijn Streuvels, damals die wohl bedeutendste Stimme Flanderns, hielt sich nicht von Nazi-Deutschland fern, sondern akzeptierte 1941 die Ehrendoktorwürde der Universität Münster.
Erst in den 70er Jahren entdeckten kleine Verlage die niederländischsprachige Literatur und veröffentlichten Autorinnen und Autoren, die im Anschluss an die 68er Bewegung Stellung bezogen: die Feministin Anja Meulenbelt, den homosexuellen (und tiefkatholischen!) Romancier Gerard Reve oder Jan Wolkers, den Schrecken des calvinistischen Establishments. Zehn Jahre später machten sich auch große deutsche Publikumsverlage auf die Suche nach den maßgeblichen Stimmen. So wurden die Niederländer Cees Nooteboom und Harry Mulisch bei Suhrkamp und Hanser verlegt, während Klett-Cotta sich des Flamen Hugo Claus („Der Kummer von Belgien“) annahm.
Für die Niederlande und Flandern ist es das zweite Mal
Der Durchbruch kam 1993, als die Niederlande und Flandern zum ersten Mal gemeinsam als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse auftraten und Dutzende von Autorinnen und Autoren, darunter Connie Palmen, Margriet de Moor und A.F.Th. van der Heijden präsentieren. 23 Jahre später sind die Niederlande und Flandern nun erneut Ehrengast am Main. Seit Anfang letzten Jahres erschienen fast 150 Bücher in Übersetzung: Sie vermitteln einen umfassenden Eindruck von diesem literarischen Reichtum.
Die niederländischsprachige Literatur ist ebenso wenig wie die aus Frankreich, England oder Deutschland monolithisch. Sie entsteht in einem transnationalen Raum. Natürlich verleiht das Medium Sprache der Literatur einer bestimmten Region eine gewisse Eigenheit, und dasselbe gilt für die beschriebene Wirklichkeit. In der flämischen Provinz geht es nun einmal anders zu als in der Großstadt Berlin, und in bayrischen Dörfern anders als in Amsterdam. Aber diese Grenzen verschwimmen, wenn man Formen und Themen betrachtet, die in einem Roman behandelt werden. Dann sind keine Nationalliteraturen mehr wahrzunehmen, sondern Werke, die scheinbar zufällig in einer bestimmten Sprache geschrieben wurden. Daher ist es schwierig, unter den Gastlandtiteln typisch Niederländisches oder Flämisches ausfindig zu machen. Die erfolgreiche Schriftstellerin Griet Op de Beeck („Komm her und lass dich küssen“) beschreibt ein erkennbar modernes Flandern, sie legt ihrer Protagonistin die flämische Variante des gesprochenen Niederländisch in den Mund und schildert die Theaterszene in einer mittelgroßen Provinzstadt. Nicht weniger sprechend ist das Bild, das Niña Weijers auf der ersten Seite ihres Debütromans „Die Konsequenzen“ von Amsterdam zeichnet: „Auf den Grachten wurde Schlittschuh gelaufen.“ Aber lassen sich die Werke dieser Autorinnen auf ihr Lokalkolorit reduzieren?
Wenn man die 150 Titel Revue passieren lässt, fällt auf, dass das große Thema der vergangenen Jahrzehnte, der Zweite Weltkrieg und die Besetzung der Niederlande und Flanderns durch Nazideutschland, langsam an Dominanz verliert. Während sie im Werk von Cees Nooteboom, Harry Mulisch und Hugo Claus noch einen selbstverständlichen Bezugspunkt bilden, geht es mittlerweile eher um die Farben der multikulturellen Wirklichkeit. Die Migrationsströme der letzten fünf Jahrzehnte haben der ethnisch homogenen Gesellschaft ein für allemal ein Ende gemacht. Zahlreiche Autorinnen und Autoren erkunden in den letzten Jahren den Third Space, wie Homi K. Bhabha ihn nennt, jenen undefinierten Zwischenraum, in dem sich der Kontakt zwischen Kulturen vollzieht.
Die neue Literatur zeugt von hybriden Identitäten
Sie beschreiben das Eigene und das Andere und entwerfen hybride Identitäten. Selbstverständlich beschäftigt das auch Schriftsteller, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Einer von ihnen ist der auf Niederländisch schreibende Iraner Kader Abdolah, der 1993 debütierte. In „Die Krähe“, einer Novelle, die im Rahmen der alljährlichen Werbekampagne des Buchhandels in einer Auflage von 600 000 Exemplaren als boekenweekgeschenk erschien, verarbeitet er seine Flucht aus dem Iran und beschreibt das Leben in einem Flüchtlingsheim. Durch zahlreiche Verweise auf klassische Texte der niederländischsprachigen Literatur gelingt Abdolah etwas Bemerkenswertes: Er schreibt sich in die niederländisch-flämische Tradition ein. Der Protagonist thematisiert wiederholt, dass er zwischen zwei Wirklichkeiten steht: „Wer nie mehr in seine Heimat zurückkann, ist in der Welt der Fantasie zu Hause.“
Für Furore sorgten in den vergangenen Jahren auch zwei junge Autoren mit marokkanischen Wurzeln: Fikry El Azzouzi in Flandern und Mano Bouzamour in den Niederlanden. Mit „Wir da draußen“ und „Samir, genannt Sam“ schrieben beide einen Coming-of-age-Roman. El Azzouzi zeigt, wie fehlende Perspektiven in einem namenlosen belgischen Dorf den Dschihad in Syrien für eine Gruppe von vier Freunden verlockend erscheinen lassen. Bouzamour hingegen, dessen Werk sich teilweise wie ein Schelmenroman liest, beschreibt das Gegenteil: Sein Protagonist besucht ein Elitegymnasium in Amsterdam und schafft – anders als sein Bruder – den gesellschaftlichen Aufstieg.
Aber nicht nur Migranten zeigen die neue Wirklichkeit. Tommy Wieringa analysiert in „Dies sind die Namen“ die kriminellen Machenschaften von Schlepperbanden. Leon de Winter untersucht in „Ein gutes Herz“ die Beweggründe der Mitglieder einer marokkanisch-niederländischen Fußballmannschaft, die in Amsterdam einen Terroranschlag verüben. Und Arnon Grünberg beschreibt in „Der Mann, der nie krank war“ die Erlebnisse eines idealistischen Architekten, der nach den Irakkriegen eine Oper in Bagdad bauen will.
Westliche Mentalität trifft islamisches Denken
In diesen Romanen wird der herrschenden westlichen Mentalität ein islamisches Denken aus Nordafrika und dem Nahen Osten gegenübergestellt. Aber die Realität der heutigen Migrationskultur hat sehr viel mehr Dimensionen. So ist die Hauptperson von Ernest van der Kwasts „Mama Tandoori“ eine Inderin, die sich an der Seite eines niederländischen Ehemannes in der ihr zunächst fremden Wirklichkeit zurechtfinden muss. Derselbe Autor erzählt in „Die Eismacher“ von einer italienischen Familie, die in Rotterdam ein Eiscafé betreibt und nur noch die Wintermonate in Italien verbringt. Das Schicksal polnischer Katalogbräute steht in Lot Vekemans’ „Ein Brautkleid aus Warschau“ im Mittelpunkt, wo sich eine junge Frau aus einem Dorf bei Warschau bei einem einsamen Bauern in den Niederlanden wiederfindet. Die Anpassung bereitet ihr Schwierigkeiten, und sie erträgt es nicht, dass sich ihr Sohn ihrem Heimatland immer weniger verbunden fühlt: „Polen wurde eine Insel, von der er langsam forttrieb.“
Im neuen Europa ist internationale Migration für den Großteil der Bevölkerung selbstverständlich geworden. Menschen kommen von weit her zu uns, um ein neues Leben aufzubauen, oder wir verlassen selbst das Land, um woanders unser Glück zu suchen. Davon erzählen Gerbrand Bakker in „Jasper und sein Knecht“ und Ilja Leonard Pfeijffer in „Das schönste Mädchen von Genua“: Der eine macht sich in die Eifel, der andere nach Ligurien auf. Damit treffen sie die gleiche Entscheidung wie Millionen andere Menschen während der letzten fünfzig Jahre. In ihrem Umfang sind die heutigen Migrationsbewegungen wohl einzigartig, aber historisch gesehen nicht ungewöhnlich.
Vom Leben in der Fremde handeln auch zwei um 1950 erschienene Romane über Indonesien, an denen jetzt neues Interesse besteht: Hella Haasse („Der schwarze See“) und Maria Dermoût („Die zehntausend Dinge“) schreiben über das Leben in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien. Sie werfen Fragen auf, die auch in der jüngsten Gegenwartsliteratur im Mittelpunkt stehen.
Am Dienstag, zur feierlichen Eröffnung der Buchmesse, teilen sich erst einmal die junge flämische Performance-Dichterin Charlotte Van Den Broeck und der niederländische Erzähler Arnon Grünberg die Rednerbühne. Tags darauf, wenn Gäste aus aller Welt die Messehallen fluten, haben aber nicht nur Fachbesucher eine Chance, die niederländische und flämische Literatur kennenzulernen. Beim rund um den Römer stattfindenden Lesefestival Open Books und im Gastlandcafé des Mousonturms kann sich jeder auf Entdeckungstour begeben.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Anne Habermann
Jan Konst