Literatur: Am Gängelband der Zeit
Luftnot und Literatur: eine Begegnung mit A. F. Th. van der Heijden, dem Proust der Niederlande.
A. F. Th. van der Heijden hat abgespeckt. Unterstützt von einem dunklen, gut sitzenden Anzug macht der niederländische Schriftsteller einen fitten, elastischen Eindruck, als er sich im Foyer des Frankfurter Interconti-Hotels zur Begrüßung aus dem Sessel erhebt. 25 Kilo seien in den letzten Jahren heruntergekommen, so van der Heijden. Wegen einer schweren Krankheit, des sogenannten Schlaf-Apnoe-Syndroms, hätten ihm die Ärzte dringend dazu geraten.
Erst vor zwei Jahren hatte sein Schriftstellerkollege Cees Noteboom spekuliert, die Literatur hätte sich mit ihrer ganzen Last auf van der Heijdens Bronchialsystem niedergelassen, das Bücherschreiben, das Ersinnen ständig neuer, riesiger Romanprojekte würde ihm die Luft zum Atmen nehmen. Van der Heijden lächelt, als er diesen Vergleich hört, und sagt: „Ich kann sehr gut unterscheiden zwischen der Wirklichkeit draußen vor der Tür und der von mir geschaffenen literarischen Wirklichkeit. Meine Krankheit hat mit meinen Büchern nichts zu tun.“
Trotzdem ist Notebooms medizinisch-literarische Assoziation nur zu verständlich. Schließlich ist A. F. Th. van der Heijden – die Abkürzung steht für den altertümlichen Vornamen Adrianus Franciscus Theodorus – der auch weiterhin schwergewichtige Verfasser von buchstäblich schwergewichtigen Romanen und Romanzyklen. Anfang der achtziger Jahre begann der 1951 in Geldrop bei Eindhoven geborene Schriftsteller mit seinem Zeit- und Bildungsroman „Die zahnlose Zeit“. Dieser sollte sich auf sieben Bände erstrecken, der letzte erschien 1996. Aber noch während van der Heijden an der „Zahnlosen Zeit“ saß, kam ihm die Idee zu einem neuen, noch umfänglicheren Romanprojekt mit dem Titel „Homo duplex“. Dessen erster Teil, „Die Movo-Tapes“, liegt nun auf Deutsch vor. Namensverkauf und Identitätsschwindel spielen darin eine zentrale Rolle, und das Leitmotiv des Helden Tibbolt Satink ist es, „ein Anderer zu werden, um so dem eigenen Tod zu entgehen“. Zum einen berichtet Satink von seiner „Karriere als anderer“, indem er zahllose Tonbänder bespricht – die titelgebenden „Movo-Tapes“– und dabei Zwiesprache hält mit seinem künftigen Ich, einem mordend und brandschatzend durchs Land ziehenden Bösewicht namens Movo. Zum anderen hat van der Heijden parallel dazu einen zweiten Erzähler geschaltet. Dieser ist von Beruf Gott und Tragödienproduzent, hieß früher Apollo, verkaufte seinen Namen in den sechziger Jahren an die Nasa und verfolgt nun die Spur von Tibbolt Sattink/Movo im Rotterdam der neunziger Jahre. Aber nicht nur das: Lang und breit erzählt er die hanebüchene Geschichte eines jungen Pärchens, das sich in den siebziger Jahren kennenlernt und bei einem Pornodreh erstmals miteinander schläft.
Man merkt an der knappen Nacherzählung, wie wenig die Geschichten und Erzählebenen dieses Romans sich bündeln lassen, wie weit van der Heijden in Zeit und Raum ausholt. „Ein allumfassendes Bild der Welt“ wolle er mit seinem neuen Romanzyklus zeichnen, hat er 1999 in eines seiner Tagebücher geschrieben. Und weiter: „Die Welt ist zugleich Gefangene der Zeit, das heißt des Augenblicks, des Jetzt. Was die Welt war, wissen wir nicht; was die Welt sein wird, ebenfalls nicht. Die Welt läuft am Gängelband der Zeit“.
Im Frankfurter Interconti ist van der Heijden zurückhaltender. Von „einem großen Experiment“ spricht er lediglich, einer „modernen Ödipusgeschichte“, die sich, das gibt er zu, dem deutschen Leser nicht gleich erschließe. Vermutlich brauche es dazu die drei anderen, in den Niederlanden schon veröffentlichten „Homo duplex“-Bände, „Drijfzand Koloniseren“, „MIM“ und „Schervengericht, het“. In Letzterem erzählt van der Heijden auf über tausend Seiten die Begegnung von Charles Manson und Roman Polanski in einem kalifornischen Gefängnis, unter gütiger Anteilnahme des namenlosen Apollo als Gefängniswärter.
Tatsächlich sind „Die Movo-Tapes“ ein langer Prolog, in dem die Geschichten aufgezäumt werden, die in den anderen Romanteilen weitererzählt werden. Die 800-Seiten-Lektüre ist da zunächst ein hartes Stück Arbeit. Man muss sich darauf einlassen und geduldig dem zeitlichen Vor und Zurück folgen – auch der wilden Entschlossenheit van der Heijdens, eine Literatur zu schreiben, die das Gegenteil von „kein Wort zu viel“ ist; die ausschweifend ist, voller Metaphern, scheinbar ziel- und uferlos. Van der Heijden dankt diese Lesemühen mit deftigen Miniaturen aus einer kleinbürgerlich geordneten, aber aus dem Ruder laufenden niederländischen Gesellschaft. Und mit feinen Reflexionen über die Zeit und den Tod, über Menschen, die „mit dem Rücken zur Zukunft und zu ihrem eigenen Tod“ stehen und in den Abgrund blicken, „der sich jenseits ihrer Geburt auftut und sich auf die Minute bestimmen lässt“.
Auch wenn dieser Prolog chronologisch korrekt veröffentlicht wird, erinnert er in seiner Hürdenhaftigkeit doch an die Veröffentlichungspraxis der „Zahnlosen Zeit“. In den Niederlanden und noch mehr in Deutschland (wo der letzte Teil, „Der Anwalt der Hähne“, als Erstes erschien) kam der „Zeit“-Zyklus ungeordnet, antichronologisch heraus. Das entsprach kongenial der Obsession des Helden Albert Egberts, „ein Leben in die Breite zu führen“, ein Leben, „in dem sich die Ereignisse gleichzeitig abspielen anstatt zeitraubend aufeinanderzufolgen“.
Nicht anders als Egberts, der der Wirklichkeit mit aller Macht ein Schnippchen schlagen will, verhielt sich sein Erfinder. Van der Heijden behauptete, sein Material würde sich von selbst bewegen, in die Bücher einrücken und ihm das Nummerieren der Bände unentwegt erschweren: „Ich erfahre die Wirklichkeit als so kompliziert, dass ich versuche, sie literarisch einfacher zu gestalten, nicht immer mit Erfolg“, beschreibt er seine Arbeitsweise und fügt trocken an, aus leidvoller Erfahrung klüger geworden zu sein: „Ich nummeriere ,Homo duplex’ nicht mehr.“
Wie A. F. Th. van der Heijden einem an diesem Buchmessenmorgen gegenübersitzt – so in sich ruhend, so gelassen –, fällt es schwer, den obsessiven, berserkerhaften Schriftsteller in ihm zu entdecken. Als würde er gerade die Speisekarte vorlesen, so räumt er immerhin ein, durchaus manische Züge an sich zu haben, vielleicht gar selbst, wie seine Figuren, Buch für Buch den Tod bezwingen zu wollen. „Manchmal habe ich den Eindruck, ich vergesse zu leben. Andererseits leben ja nicht nur Schriftsteller in einer anderen, einer literarischen Wirklichkeit. Jeder Mensch will die Zeit aufhalten, trotzdem hat niemand eine Chance gegen sie: Das ist das Schicksal des Menschen, pathetisch gesagt.“
Van der Heijdens Figuren führen pausenlos diesen Kampf gegen die Zeit. Der eine, Albert Egberts, walzt sich die Gegenwart so breit wie möglich zu einer Ewigkeit aus, inklusive unzähliger Erinnerungsschübe. Der andere, Tibbolt Satink alias Movo, kennt weder Vergangenheit noch Zukunft, lebt nur im Jetzt, begreift dieses aber als Gefängnis, aus dem ihm nur die Verwandlung in einen Anderen ein Entkommen ermöglicht.
In seinem literarischen Zugriff auf die Zeit, seinem Spiel mit der totalen Erinnerung, seinem Versuch, sich der ganzen Welt schreibend zu bemächtigen, ist van der Heijden oft mit Marcel Proust verglichen worden. Und wirklich hat er einmal eingestanden, Proust und Joyce nicht nur gelesen, sondern sie richtiggehend studiert und analysiert zu haben. Spricht man ihn darauf an, sagt er: „Ich fürchte Proust. Ich fürchte Joyce. Sie haben den Roman so weit geführt, dass es von dort kein Zurück mehr gibt. Doch man muss von dort wieder zurückkehren können. Meine Literatur liegt da vielleicht in einem ständigen Widerstreit zwischen Moderne und Konvention.“
In den „Movo-Tapes“ befasst sich van der Heijden darüberhinaus mit einer poetologischen Position des niederländischen Schriftstellerriesen Willem Frederik Hermans aus den fünfziger Jahren. Hermans bestimmte, dass in einem klassischen Roman „alles, was geschieht, und alles, was beschrieben wird, zielgerichtet ist“. Tibbolt Satink macht sich darüber in einer Schulstunde lustig. Van der Heijden jedoch sagt, auch weil in den „Movo-Tapes“ so gut wie alles auf Kommendes verweist: „Ich entwickle mich in die Richtung eines klassischen Ideals.“
Was ihn nicht davon abhält, den eigenen literarischen Wahnsinn zu pflegen. Entspannt berichtet er, dass in den Niederlanden jedes seiner Bücher auf den Bestsellerlisten landet, dass er keineswegs neun Arbeitszimmer habe, sondern nur ein sehr großes mit mehreren Schreibtischen, dass man eine gewisse Brutalität brauche, um Bücher abzuschließen. Und streut unvermittelt ein, dass er weiterschreibe an „Die zahnlose Zeit“, trotz Schmuckkassette und Registerband. Zwei weitere Bände werde es noch geben: einen aus der Perspektive einer Frau, mit dem Titel „Verliebt gegen“, und einen Epilog, situiert 1995 und 2005. „Das war plötzlich da, beim Schreiben von anderen Sachen“, sagt er, erhebt sich und folgt der Verlagsbegleiterin zum nächsten Termin. Gut aufgestellt für die Zukunft.
A. F. Th. van der Heijden: Die Movo-Tapes. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt / M. 2007, 762 S., 26,80 €
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