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So geht Sommer im hohen Norden.Die norwegische Bucht von Balestrand.
© imago/CHROMORANGE

Karl Ove Knausgårds Jahreszeitenbücher: Verwandlung ist alles

Erzähl- und Schreibzeit fallen zusammen: Karl Ove Knausgårds letztes Jahreszeitenbuch „Im Sommer“.

Am 24. Juli 2016 zeigt sich das Wetter im Süden von Schweden von seiner wunderbarsten Seite, wie überhaupt seit Wochen, und Karl Ove Knausgård bemerkt im Auto auf der Suche nach einem Radioprogramm, dass er gerade einige deutsche Sender empfangen kann. Dabei fällt ihm ein, dass in seiner Kindheit in Norwegen während sommerlicher Hochdruckzeiten auch dänische Programme im Fernsehen zu sehen waren. Das hatte für ihn etwas von einem Abenteuer: „Signale aus einem anderen Land fanden den Weg in den Fernsehapparat in unserem Wohnzimmer. Sogar Vater war aufgeregt.“

Knausgård hat an diesem Tag gerade „die lektorierte Fassung der Kurztexte in diesem Buch bekommen“, überlegt, was ihm die folgende Woche so bringt, wer zu Besuch kommt, wohin er die Kinder wieder überall fahren muss und freut sich, dass seine hinter ihm sitzende jüngste Tochter beginnt, ihre Umgebung zu beschreiben. „Dass die Sprache zu dir gefunden hat, ist etwas, worauf ich mich tagtäglich freue, was ich noch nicht als selbstverständlich hinnehme.“

Schon vor der Geburt seines vierten Kindes hatte der norwegische Schriftsteller begonnen, diesem die Welt zu erklären, wer er, seine Frau Linda und die drei Geschwister sind, wie und wo sie leben, und zwar in Form eines sich an den Jahreszeiten orientierenden, aus dementsprechend vier Bänden bestehenden Buchzyklus. Mit „Im Sommer“ ist jetzt der letzte erschienen, der sich wie der Vorgänger „Im Frühling“ formal von den beiden ersten Bänden unterscheidet. Diese bestehen nach Art eines Lexikons fast nur aus drei, vier Seiten langen Betrachtungen über zahlreiche Dinge des menschlichen Alltags und Phänomene der Natur. Miniaturen über Wassersprenger oder Stühle, Äpfel oder Bäume, allerdings auch über seine Lektüren von Flaubert oder August Sander. „Im Frühling“ dagegen ist die romanhafte Beschreibung eines Tages im Leben von Knausgård mit seiner zu der Zeit gerade einmal drei Monate alten Tochter, und „Im Sommer“ enthält nun neben eben jenen Miniaturen zur Hälfte auch zwei längere Tagebucheinträge aus dem Juli des Jahres 2016.

Wie Makrelen aussehen

Das hat zunächst etwas Unspektakuläres, so wie man es aus langen Passagen von Knausgårds sechsbändigen Lebensbuch „Min Kamp“ kennt. Knausgård schreibt über das Wetter und was er mit seinen Kindern so macht – er beschreibt aber auch, wie er das, was wir lesen, gerade schreibt, so als gäbe es keine Zeitformen, als würden Vergangenheit und Gegenwart zusammenfallen, Erzähl- und Schreibzeit, und seine Leser ihm über die Schulter gucken. Er erklärt, was eine Möwe oder ein Fahrrad, was eine Taufliege oder schmalblättrige Weidenröschen sind, wie Makrelen aussehen, was er von Hunden hält („immer habe ich die Angst vor dem hündisch Aggressiven in mir getragen“), oder wie sich ein Grill zusammensetzt und funktioniert: „Ein Grill ist aus Metall und hat häufig die Form einer Kugel, wobei die obere Hemisphäre ein Deckel mit Griff ist, während die untere als Schale oder Grube dient, in der die Kohle liegt.“

Das erinnert an Einträge bei Wikipedia, die Prosa von Knausgård ist hier gleichermaßen schlicht und technisch. Trotzdem ist der ständig mit irgendwelchen Alltagsdingen beschäftigte Familienvater nicht nur darauf aus, seiner Tochter die Welt so einfach wie möglich nahezubringen, sondern er versucht, ihr Wesen zu durchdringen, hinter die Oberflächen zu kommen, nicht zuletzt in die Tiefe der Zeiten, Verbindungen über Jahrtausende zu schaffen, was ihm wiederum mit einer bewundernswert anstrengungslosen Sprache gelingt.  

Allein die Eiswürfel, die ja vor allem im Sommer zum Einsatz kommen, sind ihm ein Symbol für den großen Kreislauf des Wassers, für das Rad, „das sich bedächtig zwischen Erde und Himmel dreht und alles in Gang hält. Er vergleicht den kalten, kaum zu ergründenden Blick einer Möwe mit dem seiner Großmutter, die die Möwe füttert, und erkennt in ihren Augen Mütterlichkeit und Wärme, beides dazu da, dass „wir die Bürde ertragen, die das Bewusstsein ist“. Auch die Taufliege lohnt der Betrachtung, sie scheint ein zwar eigentlich bedeutungsloses Wesen aus einer anderen Zeit, einem anderen Raum zu sein, „ein Staubkorn, das die Grenzen vom  Materiellen zum Biologischen überschritten hat“. Die aber, wie er doch ein wenig neidisch anerkennt, weder den Sinn ihres Daseins reflektiert noch den unweigerlich kommenden Tod.

Wie wahr kann Literatur sein?

Knausgård jedoch kann gar nicht anders, als stets neue Reflektionsebenen in seine Prosa einzuziehen. Auch in den Tagebuchpassagen gibt es essayistische Passagen. Knausgård macht sich Gedanken über Malerei und Literatur, über das Verhältnis von Kunst und Schönheit. Er erzählt, wie er Anselm Kiefer besucht, der für diesen Band farbenfrohe Aquarelle beigesteuert hat. Oder er versucht zu ergründen, wie wahr Literatur überhaupt sein kann. Ob sie, weil eine asoziale Tätigkeit, nicht gar der einzige Ort des Wahren ist. Und er fragt: „Ist die Literatur nicht rücksichtslos, und ist die Rücksichtslosigkeit nicht deren Kern und Legitimation?“

Es entsteht aber im Verlauf dieser Jahreszeitenbücher, die sich in ihrer Grundstruktur nur aus eben jenen kleinen Welterklärungsminiaturen zusammensetzen, auch eine erzählerische Bewegung. Das Ganze bekommt etwas von einer Krisenbewältigungssaga. „Im Frühling“ handelt in seiner Tiefenstruktur viel von den Depressionen von Knausgårds Frau Linda, ihren Krankenhausaufenthalten, seinem Dasein als quasi wochenlang alleinerziehendem Vater.

In „Im Sommer“ nun geht es sich viel um das Verhältnis zu seinen erwachsener werdenden Kindern, ihren Abnabelungsprozessen, wie sie ihrer eigenen Ichs gewahr werden, und wie er und sein Schriftsteller-Ich angesichts dieser Reifeprozesse sich wieder auf sich selbst zurückzuziehen beginnen.

Und eine Art Offenbarung scheint es zu sein, eine mutmaßlich „absolut wahre“, aber gar nicht so rücksichtslose, als Knausgård in zwei kurzen, aufeinander folgenden Kapiteln mit den Überschriften „Sommernacht“ und „Sommernachmittag“ vom Ende einer Liebe erzählt. Zuerst von einer letzten gemeinsamen Nacht, „der schönsten, die ich jemals erlebt habe“. Und dann von dem Tag davor, von dessen Licht, für ihn schon jetzt eine Erinnerung fürs Leben, „weil ich es mit ihr zusammen sah“.

Unweigerlich fragt man sich: Von welchem Liebespaar redet Knausgård? Wie steht es um seine Ehe? Die eigene Wirklichkeit, die Knausgård wie kein zweiter in sein Werk hineinlässt, vermeintlich form-, bedenken-, und eben rücksichtslos, die scheint er in diesem speziellen Fall doch zu einer betont fiktiven zu machen. Er bleibt dezent, um fortfahren, weiterschreiben zu können.

Er scheint, als habe Knausgård einen neuen Roman begonnen

Nach dem Abschluss von „Min Kamp“ hatte Knausgård gesagt, sich einmal davon überzeugen zu wollen, „dass ich auch über anderes schreiben kann als über mich selbst“. Die Jahreszeitenbände sind trotzdem typische Knausgård-Bücher geworden. Sie sind durchsetzt von zahlreichen Erinnungssplittern aus dem Leben des norwegischen Schriftstellers, aus dessen Kindheit und Jugend. Ob an den Vater, dessen furchteinflößender Schatten weiterhin existiert, ob an die Zeit, als Sting für den jungen Karl Ove der wichtigste und bedeutendste Musiker auf dem Planeten war. Oder ob er zu verstehen versucht, wie es sein kann, in der Gegenwart etwas zu betrachten und gleichzeitig etwas völlig Anderes in der Vergangenheit zu sehen.

Allerdings probiert Knausgård auch Anderes aus. In den langen Tagebucheinträgen versucht er, erst zögerlich, in ein anderes Ich zu schlüpfen. In das einer Frau, die sich zur Zeit der deutschen Besatzung Norwegens in einen österreichischen Wehrmachtsangehörigen verliebt, ihre Familie verlässt und sich später, da ist sie eine alte Frau, die in Malmö lebt, an diese Zeit erinnert. Am Ende erzählt Knausgård diese Geschichte über 40, 50 Seiten, und es scheint, als habe er hiermit einen neuen Roman begonnen.

Die Jahreszeitenbücher stehen der „Min-Kamp“-Saga in ihrer poetischen Qualität in nichts nach. Sie sind kein Nebenwerk, keine Fingerübungen, sondern sie haben den Charakter eines Hauptwerkes, und „Im Sommer“ ist ihr krönender Abschluss.

Karl Ove Knausgård: Im Frühling. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Mit Bildern von Anna Bjerger. Luchterhand Verlag, München 2018. 250 S., 22 €. Karl Ove Knausgård Im Sommer. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Mit Aquarellen von Anselm Kiefer. Luchterhand, Verlag, München 2018. 490 S., 24 €.

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