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Die Sänger von Gretel (Elsa Dreisig) und Hänsel (Katrin Wundsam) stecken den ganzen Abend unter Riesenköpfen.
© Monika Rittershaus

„Hänsel und Gretel“ in der Staatsoper: Verlaufen im Märchenwald

Premiere in der sanierten Staatsoper: „Hänsel und Gretel“ unter Achim Freyer und Sebastian Weigle.

Die Applausordnung ist unwiderstehlich. Das rennt, verbeugt sich, rennt, verneigt sich, rennt – das ganze Freyer-Theater mit Tierkörpern, Masken, Clownerien, Riesenschädeln, fantastischen Ausgeburten des Malers Achim Freyer ist präsent. Und schwingt. „Wenn die Not aufs höchste steigt“, befindet man sich im Zirkus, und mit vielen kleinen dozierenden Zeigefingern wird der finale Choral abgesegnet.

Zirkus, Pierrot, Kinderstube und Magie dominieren seit jeher Freyers Welt, ein Märchentheater eigener, oft erhellender Art, Zitat und Wiedererkennungseffekt – der stumme Violinist – inbegriffen. Die Salzburger „Zauberflöte“, die Uraufführung von Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ sind schönste Perlen in der Kette der Freyer-Inszenierungen. Und von seinem Reichtum profitieren in Berlin Raritäten wie Cavalieris „Rappresentazione di anima e di corpo“.

Riesenkatze frisst eilendes Mäuschen

Mit „Hänsel und Gretel“ in der Staatsoper Unter den Linden aber ist nun zu erfahren, dass dieses Zaubertheater mit seinem überbordenden Angebot auch tödlich sein kann. Geht man von der wundervollen Musik aus und dem Werk des Geschwisterpaares Engelbert Humperdinck und Adelheid Wette, handelnd von dem Geschwisterpaar Hänsel und Gretel im Märchenwald auf Beerensuche, so droht ihm Erstickung mit den trivialisierten Mitteln des Freyer-Theaters. Es krabbelt überall. Riesenkatze frisst eilendes Mäuschen.

Vier Hörner führen am Beginn des Vorspiels das Thema des Abendsegens ein, das in der Engelpantomime mit Trompeten und Posaunen überhöht wird. Und am Pult der Staatskapelle steht ihr ehemaliger Solohornist Sebastian Weigle, der 15 Jahre lang Mitglied des Orchesters war, um schließlich unter der Fürsorge Daniel Barenboims ein international gefragter Dirigent zu werden.

Knusperhäuschen der Polyphonie

Humperdincks Musik bewegt sich unmittelbar in der Wagner-Nachfolge. Statt der Walküren reiten die Hexen. „Freund Humperdinck speist mit uns“, schreibt Cosima in ihr Tagebuch, als in Bayreuth die Uraufführung des „Parsifal“ vorbereitet wird. Die Nähe zu Richard Wagner erlaubt, dass sein Assistent Humperdinck dort auch Eigenes, „ein hübsches Lied von sich“, vorspielt, „bei ziemlich unbedeutendem Thema ein ungeheurer Reichtum der Modulationen“.

Diese frühe, kleine, feine Analyse nimmt tendenziell voraus, was Humperdinck und seinem Sensationserfolg später immer wieder vorgeworfen wird: Kontrast zwischen bescheidener Liedmotivik und kompliziertem Wagner-Orchester.

Trotzdem ist und bleibt das so genannte Knusperhäuschen der Polyphonie wegen seines poetischen Stimmungsgehalts heiß geliebt. Die wichtigsten Dirigenten stehen Schlange auf der Liste seiner Interpreten: Richard Strauss, Gustav Mahler, Herbert von Karajan, in neuerer Berliner Zeit Donald Runnicles und Marek Janowski, der die Oper zu seinem Abschied als RSB-Chefdirigent erwählte.

Die Akustik lässt noch Wünsche offen

In ihrem romantischen Milieu erklingt eine Hörneroper. Das alles weiß der transparent und weich musizierende Hornist Sebastian Weigle und verteidigt es mit den Musikern gegen die Übermacht der Szene und die dämpfende Akustik des Orchestergrabens. Hier lässt die erste Premiere in der grundsanierten Staatsoper noch Wünsche offen.

Wo die Partitur mit den Stimmen des Waldes unheimlich irrlichtert, wo sie die Kinder auf der Bühne schaudern lässt, wo Kuckuck und Solovioline und tiefe Holzbläser sprechen, da sieht man die beiden Sängerinnen der Titelrollen mit je einer überdimensionalen Glumse über dem eigenen Kopf herumtänzeln. Beim Abendsegen legen sie sich mit den gewaltigen Häuptern zu Boden. Und Artisten verharren in der Zirkuskuppel, wenn die orchestrale Natursinfonie von den vierzehn Engeln singt.

Mit der Fülle der Süßigkeiten deutet Freyer Konsumkritik an

Ein ziemlich winziger Frosch links auf der großen Weite der bemalten Bühne weckt anfangs Vorfreude auf Freyers Märchenstil. Sie weicht indes sofort der Enttäuschung, wenn die Regie schon das Hörnervorspiel mit Elementen aus dem Spielwarenladen ihres Bilderspuks bestückt. Sie kann auch mal träumen von Goldregen, der auf dem Theater an Jupiter oder die Liebe der Danae denken lässt, wenn hier die arme Mutter der armen Kinder den Herrgott um Geld anfleht. Oder amüsieren, wenn die Hexe, eine dampfende Kaffeetasse auf dem Kopf, mit gewaltigen Händen und rot lackierten Fingernägeln nach dem schüchternen Hänsel greift. Konsumkritik des Brecht-Schülers Achim Freyer bleibt angedeutet in der Fülle der Süßigkeiten. Aber das Ganze nimmt sich aus wie ein in die Staatsoper verrutschter Erwachsenen-Kika.

Marina Prudenskaya singt die Mutter als ginge es um eine Wagnerpartie

Der musikalischen Interpretation wohnt ein Dennoch-Effekt inne. Solisten, Chor und Orchester sind sehr engagiert bei der Sache. Bewundernswert in ihrer lyrisch schwebenden, klaren Melodik ergänzen sich Katrin Wundsam und Elsa Dreisig, ohne ihre wahren Gesichter zeigen zu dürfen. Und sie bekommen als Hänsel und Gretel doppelten Beifall, wenn sie sich endlich ihrer Pappmaché-Köpfe entledigen.

Vorbildlich ist die Textdeutlichkeit der Aufführung insgesamt. Roman Trekel als Vater Besenbinder gewinnt in abenteuerlich bairischer Kostümierung mit seiner Beweglichkeit und seinem musikalischen Kunstverstand das Publikum, Marina Prudenskaya singt und spielt die Mutter mit vollem Einsatz, als ginge es um eine Wagnerpartie. Ebenso verantwortlich singend geht Stephan Rügamer mit der Rolle der Knusperhexe um.

Achim Freyer, dieser einfallsreiche Regisseur, verkauft seine schöpferischen Gaben diesmal unter Preis und störend. Die Buhrufe in der Pause weichen zum Schluss dem gefeierten Abspann.

Weitere Vorstellungen am 11./12./23./25. und 29. Dezember

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