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Achim Freyer ist Bühnen-, Kostümbildner, Regisseur und Maler.
© Thilo Rückeis

Interview mit Achim Freyer: „Ich hasse das Rasieren. Immer diese Pflicht“

Die „Hitlerjungs“ verlangen, dass er Frösche aufbläst, Achim Freyer lehnt ab. Der Regisseur und Bühnenbildner findet: Wir töten zu viel und beobachten zu wenig.

Herr Freyer, Sie werden oft als eigenwillig beschrieben …

… eigen ist immer gut. Wenn der Eigensinn weitergegeben wird, umso besser.

Und jetzt eröffnen Sie die Staatsoper mit „Hänsel und Gretel“ – zur Weihnachtszeit. Was für ein Klischee!

Die Idee kam von der Oper. Die haben ja Angst vor mir, dass ich wieder was Modernes mache und das Publikum „buh“ ruft. Dabei weiß ich gar nicht, was die Oper mit Weihnachten zu tun haben soll. Hänsel und Gretel sammeln Beeren, dann steht da das Männlein im Walde, das eine Hagebutte ist. Also: Sommer oder Herbst. Ich habe keine Lust, Klischees zu wiederholen. Die Hexe wird bei mir auch nicht verbrannt, das geht gar nicht. Die „Hexen“ sind ja kluge Frauen gewesen, die auf den Scheiterhaufen kamen. Dafür werden die Kinder mir übel nehmen, dass ich Süßigkeiten verbrenne.

Gibt’s auch was, das denen gefallen wird?

Hänsel und Gretel bestehen Abenteuer, entscheiden sich, sind klug. Es ist mir wichtig, dass man sich wehren kann gegen Mächte, auch übergroße. Die Hexe ist ja riesig, eine weltweite Konsumkette.

Haben Ihre Eltern Ihnen das Märchen vorgelesen, als Sie klein waren?

Nein, das war eine harte Zeit. Mein Vater, Obertelegrafenwerkführer in Königs Wusterhausen, war gegen die Nazis. In unserem Dorf wusste das natürlich jeder, es war gefährlich. Dafür habe ich Märchen erzählt: den Kindern auf der Straße, wenn’s dunkel wurde. Gruselig!

Und alle sind weggelaufen?

Nein, die sind erst mal zusammengeblieben, bis sie am Schluss ganz steif waren. Ich war ein Sadist.

Was hat die Opposition Ihrer Eltern für Sie als Kind bedeutet?

Ich war ein Naturfreund, habe Pflanzen und Schmetterlinge gesammelt, hatte Herbarium, Aquarium, Terrarium und wollte später Insektenforscher werden. Dann kamen die Hitlerjungs und verlangten, dass ich Frösche aufblase. Mach ich nicht, hab’ ich gesagt. Du bläst jetzt Frösche auf! Nein. Dann drehten sie mir die Arme um und hielten die Nase zu, sodass ich den Mund aufmachen musste zum Atmen, und einer hat mir in den Mund gepinkelt. Als meine Mutter zu den Eltern ging, wurde sie von einem Vater verprügelt. Und keiner hat ihr geholfen. Da habe ich meine Wut her, deswegen rede ich immer so leise, auch bei Inszenierungen. Alle spüren, wenn ich explodiere, dann kracht’s. Das wird nicht laut sein, aber sehr schlimm. Trotzdem bin ich für alles dankbar, was passiert ist. Selbst wenn’s unerträglich war.

Sind Sie etwa auch noch Masochist?

Man hat mehr Bewusstsein für die Dimensionen des Menschen gekriegt. Wir sind ja große Träumer, geben die Hoffnung nicht auf, trotz aller Kriege und Gewinnsucht, über Jahrtausende immer das Gleiche. Das Archaische, das darin steckt, ist es, was mich am Theater interessiert. Ich versuche nicht, eine Geschichte mit Schlips und Kragen in die Gegenwart zu holen. Das ist so abgenutzt und vergänglich. Moden ändern sich ständig.

Nur „Der Barbier von Sevilla“ nicht: Die Inszenierung von Ruth Berghaus, für die Sie Bühnenbild und Kostüme geschaffen haben, wird seit 49 Jahren an der Staatsoper aufgeführt.

Als die Berghaus mich damals fragte, habe ich gesagt: Jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen – Sie machen doch keine Operette! Ich habe nicht gewusst, dass das eine Oper ist, so ungebildet war ich auch musikalisch.

Sie inszenieren Wagner, Mozart, Verdi – und können nicht mal Noten lesen.

Ich kann sie ansehen und erblicke darin sehr schöne Gebilde.

Das heißt, Sie arbeiten nach Gehör?

Ja. Und vom Blatt, indem ich Text und Takte sehe. Mein Musiklehrer war ekelhaft! Wenn man was sang, kam er mit dem Ohr ganz nah und ist dann verächtlich weitergegangen. Das hat tief getroffen, deshalb kann ich nicht singen.

"Dich klatsch ich an die Wand. So hat mich mein Vater verdroschen"

Furios. 2013 inszenierte Freyer Wagners "Götterdämmerung" in Mannheim.
Furios. 2013 inszenierte Freyer Wagners "Götterdämmerung" in Mannheim.
© pa/Hans Jörg Michel/dpa

Sie sind 83 Jahre alt und haben Opernengagements bis ins Jahr 2020. Denken Sie nie über den Tod nach?

Na, täglich, seit der Kindheit ist er eine Figur. Mein Vater wurde als Soldat kurz vor Ende des Krieges von den Nazis erschossen. Je mehr man sich mit dem Tod beschäftigt, desto besser, glaube ich. Weil wir so viel verpassen. Ich staune immer, wie sich mir jedes Jahr so viele neue Wunder und Schönheiten der Welt offenbaren, die ich vorher gar nicht gesehen habe. Wenn ich vor zwei Jahren gestorben wäre, wäre mir vieles entgangen.

Was hätten Sie 2017 verpasst?

Ein ganz kleines Insekt mit dreieckigen Flügeln zum Beispiel, sieht aus wie ein Starfighter und kann sich in blitzartigem Tempo durch die Luft bewegen, zack, weg ist es. Diese Energie, die Kraft, mit der Luft bewegt wird. Vor Jahren wurde mir mal plötzlich klar, wie die Bäume, die aus einem Samenkorn wachsen, so einen Stamm schaffen, der dann als Balken Hunderte von Jahren in der Wohnung hängt und hält. Das nehmen wir alles so hin. Oder zerstören es. Ich habe so oft Insekten gedankenlos zertreten oder weggewischt. Wir töten zu viel und beobachten zu wenig. Eine Mücke ist doch was Schönes, auch wenn sie einen sticht.

Sie waren zehn Jahre alt, als Ihr Vater erschossen wurde. Haben Sie ihn sehr vermisst?

Als meine Mutter seinen Leichnam in einem Leiterwagen aus dem Massengrab nach Hause brachte zum Beerdigen, habe ich erst mal einen Lachanfall bekommen aus Hysterie. Ich hatte immer viel Prügel bekommen von ihm, er war Asthmatiker und oft gereizt. Man muss das verstehen, so wie bei der Mutter in „Hänsel und Gretel“, die sagt: Dich klatsch ich an die Wand, wenn du nicht den Korb voll mit Erdbeeren zurückbringst – dass sie das aus Not und Panik äußert. So hat mich auch mein Vater verdroschen. Er wollte, dass ich ein tapferer Junge bin. Er hat mir nicht viel zugetraut.

Wie haben Ihre Mutter und Sie weitergemacht?

Sie musste ja arbeiten, also habe ich mir selber gekocht, Hühner geklaut, keine Schularbeiten gemacht, war bandenmäßig unterwegs. Darum wurde ich aufs Internat geschickt, nach Schulpforta. Als Einzelkind habe ich die Gemeinschaft dort aufgesaugt. Deswegen ist man ja auch Regisseur, wegen des kollektiven Arbeitens mit anderen, dem Miteinanderdenken und -entwickeln.

Wenn „Hänsel und Gretel“ schon nichts mit Weihnachten zu tun hat – haben Sie einen Bezug zum Fest?

Als Kind fand ich es toll, wenn ich vom Schlittschuhfahren oder Rodeln nach Hause kam, kalte Nase, kalte Ohren, und der Tannenbaum brannte. Ganz früher hat mein Vater immer den Weihnachtsmann gespielt. Bis ich gemerkt habe, dass es der Papa ist, da hat er was ganz Gemeines gemacht: die Maske und den Mantel auf einen Stuhl drapiert und gesagt, na, warst du schon beim Weihnachtsmann? Da sitzt er, geh mal rein. Das war für mich so gruselig! Viel schlimmer als mein Vater in der Rolle. Eine gute Lektion fürs Theater: Sänger und Schauspieler wollen ja oft nicht glauben, dass etwas Künstliches, ein falscher Kopf, ein steifes Kostüm, unter Umständen mehr erzählt als das eigene Gesicht.

Sie haben selber eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann.

Ich hasse das Rasieren, immer diese Pflicht morgens. Und zum Friseur will ich nicht mehr, seit ich als Kind auf den hohen Stuhl gesetzt wurde, eingewickelt, dann Topf auf den Kopf und ringsum die Haare ab – Topfschnitt. Ich habe geschrien. Nein, ich schneide mir Bart und Haare alle zwei Monate radikal kurz, mit zwei Spiegeln, in fünf Minuten.

Wie die Regisseurin Ruth Berghaus sind Sie Schüler von Brecht. Eine schöne Erinnerung?

Ich war begeistert, wie bescheiden er auftrat und wie viel Zeit er sich genommen hat. Einen ganzen Tag hat er nach der treffenden Kopfbedeckung für eine Figur gesucht. Da gab’s ungefähr 300 Hüte, Kappen, Pudelmützen, Kapuzen, die musste der Schauspieler alle aufsetzen. Und dann hat Brecht gesagt: Jetzt sieht er aus wie ein Bankangestellter, der Angst hat vor der Entlassung. Jetzt wie ein Möchtegernmitmacher unter den Arbeitern, aber man spürt, dass er nichts versteht vom Arbeiten. Jetzt ist er ein eleganter Dandy. Mütze für Mütze hat er Analysen gemacht. Und der Schauspieler hat sofort angefangen zu spielen. Brecht hat alle miteinbezogen, um zu prüfen, ob ein Gedanke sich aufs Publikum überträgt. Auch die Reinemachefrauen: Hören Sie mal auf zu arbeiten, kommen Sie, ist auch Arbeit. Dieses kollektive Erfahrenwollen und Neugierigsein hat mich beeindruckt.

So interessant blieb es offenbar nicht. 1972 sind Sie in den Westen gegangen. Gab es einen Auslöser?

Als der „Clavigo“ am Deutschen Theater verboten wurde, weil ich angeblich Hippie- und Popkunst gemacht hatte. Ich hatte die wenigen Stoffe der DDR benutzt, die der Regierung und die der Bevölkerung, die hatten natürlich alle Blümchen drauf, daher die Assoziation Blumenkinder. Ich durfte für ein Gastspiel nach Italien, weil unsere Zwillinge gerade geboren waren. Das war ein schwerer Entschluss, im Westen zu bleiben, weil er mir nicht gefallen hat, mit den vielen Buttersorten, dem Lärm.

"Meine Frau konnte mit dem Westen gar nichts anfangen"

Freyer war fasziniert von Joseph Beuys' Kunst.
Freyer war fasziniert von Joseph Beuys' Kunst.
© imago/Leemage

Warum haben Sie sich entschlossen, zu bleiben?

Ich habe Szenen und Wohngemeinschaften erlebt, die linker waren als alle Theorien. Dann habe ich Künstler wie Barnett Newman und Elsworth Kelly entdeckt, die genauso abstrakte Strenge, Flächen, Formen, Linien gemalt haben wie ich. Außerdem wollte ich Beuys kennenlernen.

Warum Beuys?

Ein Freund, der mir immer Ölfarben mitbrachte aus dem Westen, hatte mir von ihm erzählt. Dass er Holzkästen, mit nichts drin, für zehn Mark verkaufen würde, signiert. Ich sagte: Bitte, bring mir einen mit! Ist ja toll, ein leerer Kasten, was für ein Mut, so was in der Kunst!

Wie sah Ihre eigene Arbeit nach der Flucht aus?

Interessanterweise habe ich die konstruktive Malerei plötzlich aufgegeben. Die persönliche Freiheit, die ich im Osten nicht hatte, habe ich dort in der Malerei ausgelebt, damit habe ich mich befreit. Und was habe ich im Westen gemalt? Lauter gefesselte, verschnürte Figuren. Enge Zwangsräume. Die Freiheit hat sich mir unterschwellig als Zwang, als unheimliche Fesselung verkörpert.

Wie haben Sie das erlebt, als Ost-Künstler in den Westen zu kommen?

In der DDR haben die Leute oft Karl Marx zu mir gesagt, weil ich lange Haare und Bart hatte. Als ich in den Westen kam, hatte ich das Gefühl: Da sind ja alle so wie ich! Ich war fast ein bisschen verletzt, dass einen die Leute nicht mehr anpöbelten. Ich musste im Westen erst eine neue Position finden.

Als Sie gingen, waren Ihre Frau und Ihre Töchter noch in der DDR.

Die Bedingung für mein Bleiben im Westen war, dass sie nachkommen. Ich habe Fluchthelfer gefunden. Die drei wurden in die Zwischenwand eines Lasters eingeschweißt. Bei Nacht und Nebel fand in West-Berlin die Geldübergabe statt, 90 000 Mark. Was ich gemacht hätte, wenn ich das Geld nicht hätte leihen können, weiß ich nicht. Und wer das war, weiß ich auch nicht, das war alles sehr geheimnisvoll. Selbst meine Frau hat mir das nie ganz genau erzählt, sie war so geschockt. Im Westen hat sie dann überall Spitzel gesehen. Freunde, die ein bisschen schweigsam waren, waren für sie verdächtig: Der horcht uns aus. Das war schwierig. Sie ist ganz plötzlich gestorben. Das Psychische kann da eine Rolle gespielt haben. Mit dem Westen konnte sie gar nichts anfangen.

Sie sind noch zusammen in die Villa in Lichterfelde gezogen, in der Sie heute leben. Der Rest des Hauses ist Atelier, Stiftung und Ihre Sammlung, die öffentlich zugänglich ist. Das Haus ist voll bis unter die Decke, Arbeiten von berühmten Künstlern wie Neo Rauch oder Beuys hängen zwischen den Arbeiten unbekannter, oft behinderter Künstler. Ist das Ihr Gegenmodell zum Museum, von dem Sie mal sagten, dass die Leute dort verdorben würden?

Mir ist wichtig, dass die Bilder zusammentreffen. Das eine hat mit dem daneben eigentlich nichts zu tun – und trotzdem entsteht plötzlich eine Aussage. Im Museum ist die Auswahl kuratorisch oft zu sehr eingegrenzt, zum Beispiel auf ein Thema wie das Stillleben. Dann nehmen die Leute nur die Äpfel und nicht mehr die Malerei wahr. Aber ich gehe sehr gern ins Museum, ich kann ohne Kunst nicht leben. Ich male jeden Tag.

Was Ihre Sammlung von den meisten Museen unterscheidet: Es gibt keine Beschriftung. Warum?

Die Besucher sind ganz heterogen. Wenn sie all diese Werke erblicken, so dicht an dicht, übersehen sie vielleicht gerade die teuren Arbeiten. Ich habe ja auch unbekannte Künstler, die große Meister sind, nur hat die Gesellschaft sie nicht entdeckt oder akzeptiert. Ich freue mich, wenn diese Bilder als gleichwertig betrachtet werden.

Wie haben Sie diese „Outsider“ für sich entdeckt?

Das weiß ich gar nicht genau. Mich treffen Bilder. Ich kriege fast einen elektrischen Schlag, wenn ich mich bei einem Trödler umschaue und plötzlich einen Farbklang sehe, eine Komposition, die um die Ecke guckt, halb verdeckt von einem anderen Bild. Ich spüre, da ist was Sensationelles. Picasso war eifersüchtig auf Kinderzeichnungen, auf diese Form der Meisterschaft, die er sein Leben lang anstrebte. Wir sind ja alle Spezialisten, während der Naive ein ganzes Weltbild hat. Darin steckt Wahrheit.

Susanne Kippenberger

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