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Vor dem Lincoln-Memorial versucht ein Demonstrant, mit Mitgliedern der Nationalgarde zu kommunizieren.
© Douliery/AFP

Rassismus, Trump, Corona-Versagen: USA – es fällt verdammt schwer, dieses extreme Land zu lieben

Das Land, das wir lieben zu hassen: Zu den USA kann man kein einfaches Verhältnis haben. Eine persönliche Betrachtung.

Texas, im Sommer 2003. In einer Autobahnraststätte, wie es in Deutschland heißen würde, komme ich mit einem alten Mann ins Gespräch. Er wirkt ein wenig zittrig und freut sich, dass ich ihm sein Tablett an den Tisch trage. Als er hört, dass ich Deutscher bin, nimmt er Abstand und sagt mit fester Stimme: „So you're a friend of Saddam Hussein.“

Er hatte gehört, dass die Bundesregierung mit Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer den Krieg der USA im Irak nicht unterstützt. Klarer Fall: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Verstehe einer dieses Riesenland, das sich Vereinigte Staaten von Amerika nennt und mit sich selbst nicht klarkommt. Zerrissenes Land der unbegrenzten Widersprüche. „I contain multitudes“, rief der Dichter Walt Whitman 1881 aus.

Walt Whitman, der Visionär des freien Ego und der Diversität. Amerika gibt Raum für vielfältige Versprechen. Da nehmen sich wieder andere das Recht, Waffen zu tragen und ihren Rassismus zu pflegen, „with God on their side“, wie der junge Bob Dylan in den frühen Sechzigern sang.

Wir fuhren dann weiter zu entfernten Verwandten meiner Frau, einer US-Staatsbürgerin, und landeten in einer texanischen Kleinstadt: auf einem anderen Planeten. Unser Gastgeber, über achtzig und von strammer Haltung, lädt uns zum Lunch ein.

Er hat in seinem Truck, den er nicht abschließt, ein geladenes Gewehr auf dem Rücksitz. Wofür er das braucht? „Gotta be prepared when they are coming“. Wer „Sie“ sind, wurde nicht ganz klar. Kommunisten, Diebe, Außerirdische, Mexikaner? Wir?

Absurde Angstvorstellungen und Feindbilder

Bei beiden Begegnungen erschreckte mich das Pauschalurteil. Und die stoische Sicherheit, mit der es ausgesprochen wurde. Ähnlich erlebe ich es jetzt, wenn von „Amerika“ die Rede ist. Viele Deutsche wenden sich mit Grausen von dem früheren Traumziel ab, und amerikanische Expats hier sind froh, in einem anderen, zivileren Land zu leben.

Auch in dieser Richtung ist die Verallgemeinerung gefährlich. Man muss aber auch zugeben: Selbst wenn die alten Redneck-Knacker von damals lange ausgestorben sind, haben sie doch reichlich Nachwuchs und Zulauf durch Trump. Sein beständiger Zorn, ja Hass befeuert Menschen, die sich mit absurden Angstvorstellungen und Feindbildern verbarrikadieren.

2003 war ein bemerkenswertes Jahr. Am 15. Februar demonstrierten damals allein in Berlin eine halbe Million Menschen gegen den drohenden Krieg im Irak. Es wurde zur größten Friedenskundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Wenige Tage später griffen die USA Bagdad an. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vize-Präsident Dick Cheney und Präsident George W. Bush prägten das Bild des hässlichen, rücksichtslosen Amerikaners aufs Neue.

Colin Powell, damals US-Außenminister, hatte Anfang Februar dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York sein Horrormärchen von Saddam Hussein und seinen „weapons of mass destruction“ aufgetischt, ein riesiger Schwindel und Kriegsvorwand.

Derselbe Colin Powell nennt Trump jetzt einen Lügner. Der Präsident entferne sich, sagt er, von der Verfassung und sei „gefährlich für unsere Demokratie, gefährlich für unser Land“. Powell will im November Joe Biden wählen.

Begeisterung für die USA und blanke Wut auf Amerika

Das Bild der USA changiert heftig und häufig, jedenfalls vordergründig. Nach den Terroranschlägen des 11. September war die Empathie und Trauer groß und wahrhaftig. Und als ein Senator namens Barack Obama im Juni 2008 im Tiergarten eine Rede hielt, stand Berlin still.

Eine Viertelmillion Menschen waren dabei, euphorisch, wollten den neuen Hoffnungsträger erleben – wie gut vierzig Jahre zuvor die Lichtgestalt John F. Kennedy beim Besuch der geteilten Stadt.

Begeisterung für die USA und blanke Wut auf Amerika, ja Abscheu wechseln sich in Wellen ab. Wenn Trump jetzt US-Truppen aus Deutschland abziehen will, angeblich, weil er wütend ist auf Angela Merkel, dann wird man auch daran erinnert, dass es maßgeblich die USA waren, die uns von der Nazi-Herrschaft befreit haben.

Und im August 1945 warfen die Befreier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Das unwahrscheinliche Comeback Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg hängt mit US-Hilfe und US-Interessen zusammen.

Nicht lange, und die Proteste gegen den Vietnam-Krieg brachten das andere Bild an den Tag: Napalm, Massaker, Imperialismus, Zehntausende tote Amerikaner; eine Nation, die ihre eigene Jugend verfeuert.

Die Einflüsse der angloamerikanischen Kultur sind unermesslich

Die deutsche 68er-Studentenbewegung hat ungeheuer viel US-Kultur aufgesogen, Protestformen und Spielarten des zivilen Ungehorsams. So ambivalent war das Verhältnis: auf der einen Seite die Musik, die Filme, die Literatur, das ungeheure Freiheitsversprechen von Hippies und Harley Davidson, die in die universelle kulturelle DNA eingegangen sind.

Die Einflüsse der angloamerikanischen Kultur sind unermesslich. Das zeigte sich in den 1960er Jahren in nahezu sämtlichen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens.

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Auf der anderen Seite stand ein Typ wie Präsident Richard Nixon, der wusste, dass der Krieg in Asien verloren war, es aber wegen seines Wahlkampfs nicht eingestehen wollte und weiter Soldaten in den Tod schickte. Die „Washington Post“ und ihre jungen Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein, die den Watergate-Skandal aufdeckten und Nixon zu Fall brachten, wurden zu Helden.

Die Journalisten Carl Bernstein (l.) und Bob Woodward (r.) am 7. Mai 1973, kurz nachdem sie erfahren hatten, dass die Washington Post für ihre Enthüllungen in der "Watergate-Affäre" den Pulitzer-Preis bekommt.
Die Journalisten Carl Bernstein (l.) und Bob Woodward (r.) am 7. Mai 1973, kurz nachdem sie erfahren hatten, dass die Washington Post für ihre Enthüllungen in der "Watergate-Affäre" den Pulitzer-Preis bekommt.
© dpa

Finsternis und Helligkeit lagen wieder dicht beieinander. Das unterstreicht die Bedeutung der Medien heute.

So stellt es sich dar: Amerika ist abschreckendes Beispiel und helles Vorbild. LGBT, Political Correctness, Gender – das sind entscheidende Begriffe und veränderte Umgangsformen, die ihren Ursprung in den USA haben.

Aus Baby Boomers sind Zoomers geworden

Amazon und Streaming-Dienste wie Netflix übernehmen unseren Alltag. Die Social Media sind „made in the USA“. Aus Baby Boomers sind Zoomers geworden. Wer sich als europäischer Weltbürger versteht, lebt unter der amerikanischen Glasglocke, einem ziemlich aussbruchssicheren, universellen Schirm. Das fällt immer dann auf, wenn die kulturelle Supermacht eine offen hässliche Phase durchmacht.

Diesmal könnte das Erschrecken tiefer gehen. Eine alte Demokratie, die sich als moralische Instanz für die Welt gerierte, lange Zeit mit Erfolg, droht zur größten Bananenrepublik der Geschichte zu werden. Als gäbe es zwischen Bolsonaro in Brasilien und Trump einen Wettstreit um die schnellste und irrste politische Mutation.

In diesen Wochen besonders bieten die USA eine kaum auszuhaltende Divergenz. Die Corona-Pandemie fordert massenhaft Todesopfer, viele Menschen werden arbeitslos und verlieren ihr Heim, in Minneapolis bringt ein Polizist einen Mann um, seine Kollegen schauen zu.

Und dann geschieht das: Ein Land erhebt sich im Namen des brutal getöteten George Floyd. Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt in unzähligen Städten. Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser lässt in riesigen Lettern „Black Lives Matter“ auf eine Straße schreiben, die zum Weißen Haus führt. Die Fantasie, die Ernsthaftigkeit des sich ausbreitenden Widerstands beeindrucken tief.

Bürgermeisterin Muriel Bowser lässt in Washington den Schriftzug "Black Lives Matter" auf die Straße vor dem Weißen Haus malen.  
Bürgermeisterin Muriel Bowser lässt in Washington den Schriftzug "Black Lives Matter" auf die Straße vor dem Weißen Haus malen.  
© Roberto Schmidt/AFP

Leonard Cohen schrieb nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 in Peking einen prophetischen Song, „Democracy“:

It's coming to America first The cradle of the best and of the worst It's here they got the range And the machinery for change

Amerika, die Wiege des Besten und des Schlimmsten. Amerika, das groß genug ist, sich und die Welt zu verändern. Das die Kraft und Mittel dazu besitzt. Unter dem Motto „Black Lives Matter“ gehen viele junge Weiße auf die Straße.

In Washington standen sich, als Trump der Weg zum Fototermin vor der Kirche mit Tränengas und Gummikugeln freigeschossen wurde, aufseiten der Demonstranten und der Uniformierten Familienangehörige und Freunde gegenüber.

Die US-Verfassung lädt zum Missbrauch ein

Inzwischen stellen sich nicht nur hohe Militärs im Ruhestand offen gegen Trump. Verteidigungsminister Mark Esper lehnt den Einsatz des Militärs gegen Demonstranten ab. Generalstabschef Mark Milley hat sich für seine Teilnahme an Trumps obszönem Fototermin mit der Bibel entschuldigt.

Und 500 Alumni der Militärakademie von West Point warnen davor, dass der amtierende Präsident einen Keil treibt zwischen das Militär und die Bevölkerung.

Sie zeigen exemplarische Zivilcourage, sie riskieren etwas. Trump, von seinen Fans kultisch verehrt, testet die schier unbegrenzten Möglichkeiten des Amtes aus. Ein Präsident der USA genießt, wie man mit Schrecken erkennt, prinzipiell eine viel zu große Machtfülle. Die US-Verfassung lädt zum Missbrauch ein.

Gleichzeitig bewirkt Trumps Verhalten, das an lateinamerikanische Diktatoren erinnert, mit denen die USA auch immer gern paktierten, dass der Respekt vor dem Amt rapide abnimmt. Der Polizeichef von Atlanta sagt, Trump solle besser den Mund halten. Das wird er nicht tun. Die Antwort der demokratischen Kräfte fällt dafür umso lauter aus. Darauf kann man sich in den USA auch verlassen.

Ein neuer March on Washington

Der schwarze Bürgerrechtler und Geistliche Al Sharpton, der bei der Trauerfeier für George Floyd sprach und jene bald neun Minuten schwieg, die Floyd unter dem Knie des Polizisten um sein Leben kämpfte, kündigt für den 28. August einen neuen March on Washington an.

57 Jahre zuvor, 1963, waren es eine Viertelmillion Menschen. Martin Luther King Jr. krönte den historischen Tag mit seiner Rede „I have a dream“. Nachher wurden die Redner von Präsident Kennedy empfangen. Das wird wohl jetzt nicht geschehen, dass Trump mit den „Terroristen“ spricht, wie er friedliche Demonstranten zu bezeichnen pflegt.

Es fällt verdammt schwer, dieses extreme Land zu lieben. Es war immer schon unmöglich. Aber unter bald 330 Millionen Amerikanern gibt es genug Menschen, die ich lieben und verehren kann und die unsere Unterstützung verdienen.

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