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Szene aus der umstrittenen Münchner „Baal“-Inszenierung.
©  Thomas Aurin

Frank Castorf: "Baal" beim Theatertreffen: Urheberrecht, Urheberbrecht

Wie weit geht die Freiheit: Was der Krach um Frank Castorf und seine Inszenierung des „Baal“ am Münchner Residenztheater uns lehrt.

Baal ist ein Schwein. Das wollte ein bisschen auch der junge Dichter sein. Baal suhlt und buhlt, ein Gossenpoet und Weiberheld aus der Zeit, in der Frauen im Männermund eben noch Weiber hießen und große Mäuler, die nach Schnaps, Schweiß und Schößen rochen, noch Helden waren. Oder sein wollten.

Bertolt Brecht war gerade zwanzig, als er schon nach Schweiß und Tabak roch, die Klampfe zupfte, die ersten Mädchen flachlegte und ihnen hinterher seine Gedichte sang. Da schrieb er auch seinen Erstling, dessen Titelheld ein streunender Lyriker war und dessen Name so toll sündenbabylonisch klingt: Baal, wie einst ein syrischer Wetter- und Fruchtbarkeitsgott.

Das Mannsbild, das Frauenbild, der Donnergott, das alles passt auch zum alten Wilden Frank Castorf. Er kifft eine Nase Brecht, lässt, wo der noch Dorfschenken sah, Helikopter landen und macht Lyriker zu Landsern und Frontschweinen. Er spielt statt Alter Welt und Erstem Weltkrieg Dritte Welt und Alle Welt und „Apocalypse now“ sowieso.

Schon Brecht hat sein literarisches Debütstück „Baal“ von 1918 im folgenden Jahr umgeschrieben – und danach noch mehrmals, bis hin zu einer letzten fünften Fassung 1955, ein Jahr vor seinem Tod. So richtig gelungen fand er den Szenenhaufen mit Huren und Hausfrauen, Landkneipen und Dachkammern, Bettlern, Kellnern, Verlegern, Kritikern und Holzfällern nie. Und so geht es einem heute hier wie auch mit manch späterem Brecht. Der alle Welt auf dem Theater als „veränderbar“ zeigen wollende Stückeschreiber wirkt als Dramatiker in einer veränderten Welt zwar technisch noch oft meisterhaft, aber thematisch fad und fern und gedanklich (ob als Anarchist, Hedonist, Sozialist) ziemlich altbacken. Unterkomplex. Während seine Poesie schwebt und lebt.

Frisch als Brechttartar aus Castorfs Fleischwolf gibt es "Baal" nur noch einmal

Hellsichtig führte Brecht denn seinen Helden auch gleich ein mit einem Gedicht, einem Gesang, dem „Choral vom großen Baal“, der so beginnt: „Als im weißen Mutterschoße auf wuchs Baal / War der Himmel schon so groß und still und fahl / Jung und nackt uns ungeheuer wundersam / Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.“

Das kann man auch in Zeiten der Petrischale und des von Gott und allen Göttern entvölkerten Himmels kaum schöner sagen. Es kommt auch irgendwie vor in Frank Castorfs jüngster Münchner Baalerei. Aber so richtig frisch und frei als Brechttartar aus dem Castorfschen Fleischwolf wird man das nur noch ein Mal erleben können: am 17. Mai zum Finale des Theatertreffens in einer einzigen Aufführung des Residenztheaters München im Festspielhaus. Die sonst übliche zweite Vorstellung während des Treffens entfällt. Auf Gerichtsbeschluss.

Der Fall ist in seinen groben Zügen bekannt. Das Recht am Brecht besitzt bis heute Barbara Schall-Brecht, die noch einzige lebende Tochter von Brecht (und Helene Weigel), vertraglich wahrgenommen werden die tantiemeträchtigen Brecht-Rechte vom einst Frankfurter, jetzt Berliner Suhrkamp Verlag. Am 15. Januar 2015 hatte Frank Castorfs „Baal“-Inszenierung in München Premiere. Den Aufführungsvertrag hatte das Residenztheater mit Suhrkamp geschlossen, und nicht nur im Suhrkamp Theaterverlag wusste man, wie der Regisseur Castorf arbeitet. Umso überraschender dann im Februar der Gang von Suhrkamp zum Kadi. Auf Drängen der bald 85-jährigen Barbara Schall-Brecht, der Witwe des früheren Brecht-Protagonisten Ekkehard Schall am Berliner Ensemble, wollte der Verlag ein Aufführungsverbot wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht.

Castorf fragmentiert, fleddert, sampelt, veredelt oder veräppelt

Am Abend des 18. Februars, an dem im Residenztheater die bereits siebte „Baal“- Vorstellung lief, kam es vorm Münchner Landgericht zum Vergleich: Castorfs Inszenierung darf unterm Siegel Brechts nicht mehr weiterlaufen; ausgenommen wurden von diesem Verdikt nur die unmittelbar folgende, in München am 9. März gezeigte Vorstellung sowie das jetzt bevorstehende einmalige Gastspiel beim Berliner Theatertreffen.

Die Empörung in Theater- und Kritikerkreisen ob der Intoleranz von Brechttochter und Brechtverlag war erwartungsgemäß groß. Und einhellig. Denn dass Castorf den „Baal“ nicht vom Blatt spielen lassen würde, war jedem klar. Castorf fragmentiert, fleddert, verändert, veredelt oder veräppelt feste Textvorlagen immer wieder im offenen Probenprozess. Er sampelt, mixt, assoziiert, dekonstruiert – seit gut einem Vierteljahrhundert. Brecht hatte den „Baal“ zwar nicht als Kriegsstück, aber eben im letzten Kriegsjahr geschrieben. Bereits im vergangenen Jahr hatte Castorf in München Célines „Reise ans Ende der Nacht“, einen Weltkriegsroman, in alle exotischen Nachtclub- und Alptraumzeiten fortgeträumt (auch beim Theatertreffen 2014) oder hatte Malapartes Zweitweltkriegsroman „Kaputt“ an der Volksbühne in einen Weltuntergang hineinfantasiert.

Jim Morrison, Francis Ford Coppola, Rimbaud, Verlaine, Sarrte, Jünger - so hängt alles mit allem zusammen

Mit wenigen Originaltextanteilen. Und in den fabelhaften Bühnen(verhau)bildern von Aleksandar Denic mit Hubschrauber, Vietnamkriegs-Dschungel, Soldaten- und Partisanenbars und Livevideos wird der „Baal“ unter- und übermalt: zum Beispiel von Jim Morrison und den Doors („The End“), von Texten Rimbauds und Verlaines, von Jean-Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanons „Verdammten dieser Erde“, von Ernst Jüngers „Waldspaziergang“, Motiven aus Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsepos „Apocalypse now“, das ja bereits die düsteren Inbilder von Joseph Conrads Kongo-Reiseerzählung „Das Herz der Finsternis“ in sich barg. So hängt immer alles mit fast allem zusammen.

Und erst bei Castorf! Er nimmt sich die Freiheit des Theaters, bastelt und berserkert an seinen vielstündigen, hoch eklektizistischen Gesamtkunstwerken. Bei seinem demnächst wieder anlaufenden Bayreuther „Ring“ ist er immerhin noch an Libretto und Partitur gebunden, da steckt die Vision zuerst in den Bildern, in den Kostümen, im Rahmen. Auch wenn er ihn sprengen möchte.

Beim Schauspiel hat freilich jeder geniale oder auch nur (seit Castorf) epigonale Dekonstrukteur freie Hand – wenn der Autor des ursprünglichen Stücks entweder schon mehr als 70 Jahre tot ist (wie die Klassiker) oder er oder die Erben etwas lax sind in Fragen des Urheberrechts. So lax, wie es auch Brecht selber war, der sich früh von den Lästermaulversen des Vaganten und Verbrecherpoeten François Villon aus dem 15. Jahrhundert inspirieren ließ: in den deutschen Übersetzungen des österreichischen Nachdichters K.L. Ammer. An ihnen hatte sich Brecht durchaus plagiierend bedient, ebenso wie an John Gays (freilich längst rechtsfreier) „Beggars Opera“ bei der „Dreigroschenoper“. Von den missachteten Rechten der diversen Brecht-Geliebten als Koautorinnen nicht zu reden.

Längst ist es Brauch, dass mehrdeutige Kunstwerke auf offen interpretiert werden

Wenn es um traditionell geschriebene Stücke geht, ist es längst Brauch geworden, dass offene, sprich mehrdeutige Kunstwerke auch offen interpretiert werden. Dabei wird der Spielraum immer weiter, je mehr Zeit und damit Zeiterfahrung zwischen dem Ursprung des Stücks und der (heutigen) Interpretation liegt. Brecht nannte dies die „Historisierung“der älteren Stücke, in denen sich nicht der Wortlaut, wohl aber die Bedeutung von Texten verändert. Wie auch ihr Subtext, den zu ergründen die Aufgabe jeder schauspielerischen und inszenatorischen Interpretation ist. Brecht selbst hat das übrigens am besten bereits auf die Formel gebracht: „Man kann Shakespeare verändern, wenn man es kann.“

Die oft beschworene „Werktreue“ ist häufig nur ein Schlagwort, Werkschätzung, Werkneugierde oder gar Werkliebe (mit Seitensprüngen) wären schon besser. Und natürlich ist das Urheberrecht eines Gegenwartsautors, vor allem bei einer Uraufführung, besonders genau zu beachten. Je bekannter und im kulturellen, öffentlichen Bewusstsein durchgesetzter ein Text ist (und sein Autor), desto freier dürfen sich freilich die Theater sehen. Und eine so erfolgreiche und erfahrene Autorin wie Elfriede Jelinek schreibt ihre Bühnenvorlagen schon bewusst als „Textfläche“, als durchgehende Rede/Sprache ohne Personenangaben, auf dass die Regisseure und Schauspieler sich ihre Rollen und Textpassagen selber aneignen und aufteilen können. Oder weglassen, was sie (nicht) wollen.

Barbara Brecht-Schall beruft sich auf "Papas Geist". Sie ist formal im Recht.

Trotzdem ist das eine Ausnahme, und es bleibt eine Unsitte, heute landauf landab originale (traditionelle) Stücktitel mit dem Zusatz „von“ Shakespeare, Schiller, Goethe, Tschechow selbst dann zu plakatieren, wenn der Originaltext nur noch bruchstückhaft vorkommt. Wenn die Inszenatoren andere Texte oder ihre Privatkommentare dominant reinmischen. Vor allem jüngere Nichtkenner (älterer Originale) vermögen im Publikum dann gar nicht mehr den Unterschied zwischen der angekündigten Komposition und ihrer tatsächlichen Dekonstruktion zu ermessen. Castorf nennt dies selber seinen legitimen „Etikettenschwindel“.

Auch der Münchner „Baal“ wird mit dem Zusatz „von Bertolt Brecht“ annonciert. Hätte man „frei nach Brecht“ gesagt und geschrieben, hätte es vor Gericht anders ausgeschaut. Mit einer Titeländerung von „Endstation Sehnsucht“ in „Endstation Amerika“ mit entsprechendem Zusatz hatten Castorf und die Berliner Volksbühne schon vor Jahren eine ihrer besten, assoziativ reichsten Aufführungen gerettet. Damals gegen die Erben von Tennessee Williams. Barbara Brecht-Schall ist formal im Recht. Sie beruft sich, wie schon bei früheren Restriktionen gegenüber Theatern, auf „Papas Geist“. Der Papa hatte freilich 1929 einmal gesagt, dass „geistiges Eigentum“ eine Sache sei, „die in Schrebergärten gehört“. Allerdings hatte Brecht da noch keinen Schimmer vom Internet – doch das wäre eine andere Geschichte.

Peter von Becker

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