Nachfolger von Frank Castorf: Neuer Intendant der Volksbühne: Chris Dercon stellt sich vor
Nach wochenlangem Theaterstreit stellte sich Chris Dercon jetzt als Nachfolger von Frank Castorf als Intendant der Volksbühne in Berlin vor. Mit im Team sind Alexander Kluge, Romuald Karmakar, Marietta Piepenbrok und Susanne Kennedy.
Er kommt, spricht und beeindruckt. Er flicht in seine Tour de force durch Stadt und Kunst, Geschichte und Ästhetik gleich zu Beginn die Namen Reinhardt, Piscator, Besson, Müller (Heiner, nicht Michael, der kommt später noch) und Castorf ein. Damit hat Chris Dercon beim Vorstellungstermin im Roten Rathaus schon einmal den Verdacht ausgeräumt, der in den vergangenen Wochen so häufig geäußert worden war: dass der Belgier die Volksbühne nicht leiten könne, denn er sei kein Theatermann.
Aber nun kommt er. Und bringt ein Team mit, das den künftigen Intendanten Dercon absichert und zugleich das Haus nach allen Seiten öffnet. Die junge Theaterregisseurin Susanne Kennedy, der Filmemacher Romuald Karmakar, die Choreografen Mette Ingvartsen gehören dazu und – Überraschung! – der 83-jährige Autor und Regisseur Alexander Kluge. Mit Marietta Piepenbrok holt er eine im deutschen und europäischen Kulturbetrieb erfahrene Programmdirektorin.
Die Volksbühne soll ein Ort der Begegnung von Menschen und Künsten sein, das war sie ja schon immer. Was Dercon vorhat, könnte man als Runderneuerung der Tradition fürs 21. Jahrhundert beschreiben. So sieht es auch der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller, der hier seine erste und sehr weit reichende Entscheidung für die Kulturentwicklung in Berlin getroffen hat. Müller ist neu auf diesem Gebiet, und so will er auch das Neue. „Von Berlin“, sagt Müller, „müssen Impulse ausgehen, hier muss etwas gewagt werden“. Mit dem Status quo könne man sich nicht zufriedengeben. Und deshalb habe er sich für Chris Dercon entschieden. Der werde sich mit Berlin auseinandersetzen und weit über die Stadt hinaus wirken.
Dercon räumt in seiner 20-minütigen Berliner Antrittsrede alle strittigen Themen ab. Das Ensemble der Volksbühne will er erhalten. Er will kein Festival aufziehen, sondern richte sich nach dem römischen Kalender: Theater jeden Tag. Und er hat vor, so wie es Castorf und Co. vorgemacht haben, „die Stadt als Bühne mit zu inszenieren.“ Dafür wird die Volksbühne auch wieder den Prater in der Kastanienallee bespielen und und das Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz. Von dort, in einer Nord–Süd-Achse, habe man den Hangar 5 in Tempelhof im Blick – als weitere Spielstätte für all die Künstler unterschiedlichster Provenienz, die Dercon engagieren will. Und das ist im Moment eher nicht so schwer, denn Berlin befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Anziehungskraft. Es ist der Traum-Raum und Spekulationsort weltweit. Und was Berlin international ist, das ist die Volksbühne für Berlin: das kreative Pump- und Kraftwerk. Mit „Terminal Plus“ soll es ab 2017 dann auch eine digitale Volksbühne geben. Theater im Netz, als Aktion und Archiv.
Chris Dercon bedankt sich bei der Presse für die Diskussion
Apropos: Da muss man jetzt kurz innehalten, rekapitulieren. Chris Dercons Auftritt markiert am Freitagnachmittag das Ende einer turbulenten Zeit. Auch darauf geht Dercon noch ein. Er dankt der „deutschen Presse“, die Diskussion um seine Person sei wichtig gewesen. So viel Charme ist man hier nicht gewohnt.
Am 1. Mai beginnt das Theatertreffen, die Leistungsschau der deutschsprachigen Bühnen in Berlin. Das ist immer ein großes Fest, oft auch ein Kampfplatz für ästhetische und kulturpolitische Themen. Auch Frank Castorf ist dabei, mit seiner Inszenierung des „Baal“ nach Bertolt Brecht, die in Berlin zum letzten Mal gezeigt wird. Die Erben des Dramatikers haben das Verbot durchgesetzt. Es sei zu viel fremdes Material benutzt worden – und nicht mehr viel übrig von Brecht.
In Berlin tobte allerding bereits seit Wochen ein ebenso unterhaltsamer wie aufschlussreicher Theaterstreit. Auch hier geht es um Altes und Neues, um Copyright und Eitelkeit. Ganz Theaterdeutschland mischte sich ein in eine Auseinandersetzung, die viele Fronten und Ecken hat. Darf ein Kurator, ein Museumsmann ein Theater leiten? Und dann auch noch die heilige Volksbühne? Das wäre gerade so, als würde ein evangelischer Theologe zum Papst gewählt.
Claus Peymann übernahm die Clownsrolle
Castorf freilich, seit 1992 im Amt, hat immer alles dafür getan, sein Programm zu weiten mit Musik, Bildender Kunst, Performance. Diskursen. Seine eigenen Inszenierungen mit ihrem hohen Anteil von Video und einem piratenhaften Textverständnis haben längst den Weg des literarischen Theaters verlassen, auf dem ein Claus Peymann am Berliner Ensemble unberirrt weiterschreitet.
Peymann, 77, spielte in dem Streit die Rolle des Clowns. Er beschimpfte den Regierenden Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller, bewarf Kulturstaatssekretär Tim Renner mit Dreck. So machen es die Hofnarren, aber da war Peymann schon besser in seinen früheren Wiener Jahren, politischer. Lustig, wie er plötzlich seinem Erzfeind Frank Castorf beigesprungen und das Ensembletheater verteidigt hat – das ja bei Peymann wie bei Castorf gar nicht mehr richtig existiert. Eine Phantomdebatte also. Und das tut ja oft sehr weh. Weil das, worum es geht, gar nicht mehr existiert: das Theater der achtziger, neunziger Jahre.
Es tobt ein Richtungsstreit: Dercon wird die visuellen Künste forcieren
Chris Dercon, zur Zeit Leiter der Tate Modern in London, ist mit 57 Jahren freilich auch kein ganz junger Mann mehr. Deshalb kann man auch schlecht von einem Generationenstreit reden. Vielmehr tobt ein Richtungskampf. Dercon wird die visuellen Künste forcieren, und er pflegt eine enge Verbindung mit Matthias Lilienthal, dem künftigen Intendanten der Münchner Kammerspiele. Lilienthal ist Berliner, war bis 1998 Chefdramaturg bei Castorf an der Volksbühne – in den besten Jahren. Lilienthal hat in dem Castorf-Renner-Dercon-Drama eine Hauptrolle, hinter den Kulissen. Oder ist es bloß ein Lehrstück, wie Kulturpolitik funktioniert?
Als Klaus Wowereit noch regierte und einen Kulturstaatssekretär suchte, fand er Tim Renner. Auch ihn kennt Lilienthal gut. Und als Tim Renner einen Nachfolger für Frank Castorf suchte, als er das wagte, fand er Chris Dercon – der ist mit Lilienthal befreundet und in München immer noch sehr beliebt, aus seiner Zeit als Leiter am Haus der Kunst. Lilienthal wiederum ist mehrmals die Volksbühne angeboten worden. Er lehnte ab, wollte nicht zurück an den Ort der großen Triumphe. Nun ist er doch wieder da. Durch die Seitentür. Mit Dercon.
Es klingt toll, was Chris Dercon sagt
Lilienthal ist auch deshalb eine Schlüsselfigur in dem Spiel, weil er sich immer verändert hat. Neun Jahre Aufbauarbeit am HAU in Berlin, dann war wieder Schluss. Lilienthal kommt aus dem Theater und arbeitet lange schon wie ein Kurator, der Themen und Künstler organisiert und gern den traditionellen Theaterrahmen verlässt. Dercon kommt aus der anderen Richtung, von der Bildenden Kunst. Wobei all das zeigt, wie schwierig es ist, die Bereiche auseinanderzuhalten. Da liegt, jenseits von Platzhirschröhren und Offene-Briefe-Schreiben, der Kern der Sache. Welches Theater wollen wir? Wie kann Theater zum Beispiel im Jahr 2030 funktionieren?
Dercon will das herausfinden – und bietet sich den anderen Berliner Bühnen und Institutionen als Partner an. Er zitiert den so plötzlich verstorbenen Soziologen Ulrich Beck: „Kooperieren oder scheitern.“ Das klingt toll, wie fast alles, das Dercon sagt. Es wird aber die Berliner Szene nervös machen. Ein großer Player kommt dazu, mit weit offenen Armen. Dercon will auch mit den Volksbühnen-Regisseuren Herbert Fritsch und René Pollesch arbeiten. Dercon dreht am großen Rad. Aber das war schon immer das Emblem der Volksbühne. Das Volksbühnen-Rad auf dem Rosa-Luxemburg-Platz soll frischen Anschub bekommen. Es wird laut werden, wenn es losrollt im Herbst 2017. Viele werden aufspringen, andere wollen nicht überrollt werden.
Und dann sagt Dercon noch: „Das Angebot, an die Volksbühne zu kommen, konnte und wollte ich nicht ablehnen.“ Michael Müller und Tim Renner lächeln. Sie sagen nicht viel. Sie haben einen starken Redner engagiert und ihr erstes großes kulturpolitisches Ding gedreht.