Filmfestival Toronto: Unsere Liebe ist ein Aufstand
Kino als politische Landvermessung: die Bilanz eines starken Jahrgangs beim Internationalen Filmfestival von Toronto.
„Ich wünsche niemandem, dass er den, den er liebt, durch eine Glasscheibe anschauen muss“, sagt die junge Frauenstimme aus dem Off. Gemeint ist die Scheibe im Besucherraum des Gefängnisses, welche die 19-jährige Tish von ihrem Geliebten Fonny trennt. Aber in Barry Jenkins neuem Film „If Beale Street Could Talk“ impliziert dieser Satz auch das Versprechen, die unsichtbaren Barrieren, die das Kinopublikum von den Figuren auf der Leinwand trennen, einzureißen und die direkte, emotionale Berührung zu suchen.
Dass Jenkins dazu in der Lage ist, hat er in „Moonlight“ bewiesen, der vor zwei Jahren mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Der Siegeszug von „Moonlight“ begann mit der Weltpremiere beim Toronto International Filmfestival, wo nun „If Beale Street Could Talk“ seine Uraufführung feierte. Der Film nach einem Roman von James Baldwin zeigt, wie ein junges afroamerikanisches Paar im Harlem der siebziger Jahre in die Mühlen von Polizei und Justiz gerät. Dabei arbeitet der Film nicht mit gängigen Empörungsmustern. Dass ein Afroamerikaner unschuldig im Gefängnis landet, gehört für die Figuren zum rassistischen Normalzustand.
Lovestory in XL-Format
Sehr viel effizienter stellt Jenkins dem juristischen Willkürakt eine riesengroße Lovestory gegenüber, wie man sie seit vielen Jahren nicht mehr auf der Leinwand gesehen hat. In diesem Konzept offensiver Romantisierung ist jede einzelne Einstellung eine Liebeserklärung an die Figuren und auch an die Hauptdarsteller KiKi Layne und Stephan James. Die Großaufnahmen, die Jenkins wie kein anderer einzurichten versteht, greifen direkt ins Herz. Gleichzeitig ist der Film das kraftvollste cineastische Bekenntnis, das man sich zur „Black Lives Matter“-Kampagne vorstellen kann.
Sehr viel aktueller geht „The Hate U Give“ von George Tillman zur Sache. Der Film folgt der sechzehnjährigen Starr (herausragend: Amandla Stenberg), die tagtäglich aus dem schwarzen Ghetto heraus zu einer Privatschule am anderen Ende der Stadt fährt, weil die Schulen ihrer Nachbarschaft eine lebensgefährliche Angelegenheit sind. Bei einer Verkehrskontrolle muss das Mädchen mit ansehen, wie ein Freund von einem Cop erschossen wird. Tillman entwirft ein packendes Coming-of-Age-Drama, das seine Heldin in einen forcierten Selbstfindungsprozess hineintreibt und die rassistischen Grenzziehungen innerhalb der US-Gesellschaft präzise aufzeigt.
Frauen gehen auf Raubzug
In seinen bisherigen Filmen hat Steve McQueen („12 Years a Slave“) unbequeme Themen wie Hungerstreik, Sexsucht oder Sklaverei mit analytischer Direktheit angesteuert. Im Vergleich dazu wirkt sein neuer Film „Widows“ zunächst wie ein Zugeständnis an den Mainstream. Im Kostüm eines Heist-Movies erzählen McQueen und seine Co-Drehbuchautorin Gillian Flynn („Gone Baby“) von vier Frauen, die nach dem Tod ihrer kriminellen Ehegatten in einen Coup hineingezwungen werden. „Widows“ sieht aus wie der Film, der „Ocean’s 8“ hätte sein sollen. Aber zwischen den Genrekonventionen verbirgt sich ein radikaler Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die von männlichem Zynismus geprägt sind. Gewalttätige Ehemänner, korrupte Politiker, eiskalten Killer – weit und breit gibt es nicht eine männliche Figur, die irgendeine Art von moralischem Kompass in sich trägt.
Knapp ein Jahr nach dem Beginn der Me-Too-Debatte versucht das Festival ein Zeichen in Sachen Gleichberechtigung zu setzen. Mit 121 Filmen von Regisseurinnen wurde im Gesamtprogramm immerhin eine Quote von 35 Prozent erreicht. Aus dem Beiträgen von Filmemacherinnen ragte „High Life“ der französischen Regieveteranin Claire Denis heraus. In ihrer bizarren Science-Fiction-Variation wird eine Gruppe Strafgefangener als Versuchskaninchen ins All geschickt, wo Juliette Binoche als Ärztin mit rapunzellangem Haar die Passagiere zu Fortpflanzungsexperimenten heranzieht. Tägliche Spermaabgaben, künstliche Befruchtungen, eine Masturbationskammer und schwarze Löcher gehören zur futuristischen Grundausstattung.
Zukunft? Eher keine
Daraus entwickelt Denis eine apokalyptische Zukunftsvision, in der Gewalt und Schönheit dicht nebeneinanderliegen. In Toronto präsentieren die Studios traditionell ihre Herbstkollektion mit Blick auf die Oscars. Eine Leistungsschau, bei der sich zeigt, dass das amerikanische Kino sich im zweiten Jahr der Ära Trump verstärkt mit gesellschaftlichen Missständen im eigenen Land auseinandersetzt.
Gleich zwei Filme, Peter Hedges „Ben Is Back“ und Felix Van Groeningens „Beautiful Boy“, beschäftigten sich mit den Auswirkungen der sich epidemisch ausbreitenden Drogensucht von Jugendlichen. In Joel Edgertons „Boy Erased“ schickt ein Prediger seinen schwulen Sohn in eine Umerziehungsanstalt, und in „Skin“ von Guy Nattiv versucht ein junger Neonazi der militanten, rechtsradikalen Familienbande zu entkommen.
Moores Rückkehr nach Flint
Nicht zu vergessen Michael Moore, der in seinem neuen Dokumentarfilm „Fahrenheit 11/9“ die Frage aller Fragen stellt: „How the fuck did that happen?“. Moore konzentriert sich zunächst auf das politische Versagen des demokratischen Establishments, dessen Kompromisspolitik zur Verbitterung einkommensschwächerer Wählerschichten geführt habe. Dann reist er zurück in seine Heimatstadt Flint in Michigan, wo der republikanische Gouverneur Rick Snyder mit Notstandsgesetzgebungen politische Gegner ausschaltet, eine ganze Stadt mit verseuchtem Trinkwasser vergiftet und im kleinen Maßstab vormacht, was ganz Amerika unter seinem 45.Präsidenten noch blühen könnte – inklusive eines gar nicht so abwegigen Trump-Hitler-Vergleiches.
Mit gewohnt klarem Klassenstandpunkt untersucht der Agit-Dokumentarfilmer den politischen Seelenzustand seines Landes aus der Perspektive der kleinen Leute. In ihrem sich allmählich organisierenden Widerstand sieht er einen Keim der Hoffnung. Aber Moores kämpferischer Optimismus wirkt diesmal eher aufgesetzt und kann die tiefe Verzweiflung über die politischen Verhältnisse nicht verbergen.
Martin Schwickert
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