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Ein offener Ort. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin steht für Erschütterung genauso wie für Entspannung zur Verfügung.
© dpa/Christophe Gateau

Aufarbeitung der NS-Verbrechen: Unsere Erinnerungskultur ist zu behaglich geworden

Auschwitz-Selfies, KZ-Souvenirs und wohlfeile Rituale: Der Schrecken ist vom Stigma zum Standortfaktor geworden, meint Zeithistoriker Martin Sabrow. Ein Gastbeitrag.

Die Erinnerungskultur der Deutschen gründet auf der weithin gefestigten Übereinkunft, die eigene Vergangenheit nicht als nationalstolze Kontinuitätsgeschichte im Gedächtnis zu bewahren, sondern als opferzentrierte Umkehrerzählung. Um zu diesem Geschichtskonsens zu kommen, hat die Bundesrepublik einen weiten Weg zurückgelegt.

Kein Unternehmer würde noch wie der IG-Farben- und nachmalige Bayer-Manager Fritz ter Meer jede Schuld am Leid der Zwangsarbeiter mit der Feststellung abwehren, dass ihnen ja kein besonderes Leid zugefügt worden sei, „da man sie ohnehin getötet hätte“. Kein Bundeskanzler würde heute mehr wie Ludwig Erhard am 20. Jahrestag des Kriegsendes den 8. Mai als einen Tag hinstellen, der „so grau und trostlos wie so viele vor oder auch nach ihm“ sei. Kein Oppositionsführer würde wie Willy Brandt fordern, dass es „genug des bloßen Zurückschauens“ sei.

Theodor Adornos bittere Erfahrung, „im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment“ ist längst mit Wucht in ihr Gegenteil umgeschlagen. Die historische Staatsräson der Bundesrepublik formulierte Bundespräsident Joachim Gauck in lakonischer Eindeutigkeit: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“

Normalisierungsdiskurs ohne Ressentiments

Heute stellt sich der Staat nicht der Aufarbeitung entgegen, sondern begreift sich als ihr Wegbereiter. Die Norm andauernder kritischen Auseinandersetzung mit dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) muss nicht von jedermann geteilt werden. Aber sie markierte fast 30 Jahre lang den Rahmen des Sag- und Vertretbaren. Der Schweigekonsens der Nachkriegszeit wurde seit den späten 70er Jahren von einem Aufarbeitungskonsens abgelöst. Unangefochten galt er nie, und infrage gestellt wurde er nicht erst seit der rechtspopulistischen Forderung nach einer erinnerungspolitischen Wende.

Helmut Kohl trieb in den 80er Jahren die Schaffung eines nationalen Geschichtsmuseums voran, das der Fokussierung auf die dunklen Flecken ein Gesamtbild der deutschen Geschichte entgegensetzen sollte. Der Normalisierungsdiskurs atmet nicht mehr das Ressentiment der Schweigekultur, das Adorno der Adenauer-Ära attestierte. Es sind häufig gerade Intellektuelle linksliberaler Herkunft, die sich mit Martin Walser gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande“ oder mit Alfred Grosser gegen die billig hervorgeholte „Keule der Vergangenheit“ wehrten.

Keiner von ihnen hätte je das Faktum der NS-Verbrechen angezweifelt. Im Gegenteil: Wenn Günter Grass in der Erzählung „Im Krebsgang“ oder Jörg Friedrich mit seinem Buch über den Bombenkrieg den Opfern der Deutschen die Deutschen als Opfer gegenüberstellten, taten sie es gerade im Glauben an die Festigkeit einer Geschichtskultur, die die Erinnerung an die deutschen Leiden vor verfehlter Relativierung schütze.

Die Scham hat ihr emotionales Fundament verloren

Heute wird in der Auseinandersetzung mit der Last des 20. Jahrhunderts politische und moralische Verantwortung, aber nicht mehr persönliche Schuld verhandelt. Die Scham über die „Dauerpräsentation unserer Schande“, die Martin Walser 1998 in die Paulskirche rief, hat in der postnationalen deutschen Gesellschaft ihr emotionales Fundament verloren.

Wenn Peter Gauweiler 1997 gegen die Wehrmachtsausstellung zu Felde zog, die das Andenken seines Vaters zu verdunkeln drohte, der an der Besetzung Polens mitwirkte, so gilt eine Halbgeneration später weitgehend selbstverständlich, dass Opa kein Nazi war: Nur 18 Prozent der Deutschen glauben heute, dass unter ihren Vorfahren auch Nazis waren. Die deutsche Demokratieerzählung verknüpft helle und dunkle Erinnerung, statt sie gegeneinander auszuspielen. Ihr Ausgangspunkt ist bis heute, dass Bonn nicht Weimar ist, dass die zweite Republik die Gebrechen der ersten überwinden müsse.

Banalisierung des Bösen. Tourist fotografiert das Tor des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz.
Banalisierung des Bösen. Tourist fotografiert das Tor des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz.
© dpa/Klaus Blume

Die Krise der Erinnerungskultur verlangt offenbar nach anderer Erklärung. Das Pegida-Treiben auf der Straße und der Einzug der AfD in die Parlamente hat die zeithistorischen Sagbarkeitsregeln in einer Weise verwischt, wie dies noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar schien. Geschichtspolitische Tabubrüche füllen die Echokammern des Rechtspopulismus in den sozialen Medien und führen bereits zu politischen Forderungen: Im Stuttgarter Landtag brachte die AfD den Antrag ein, die Fördergelder für die NS-Gedenkstätte Gurs in Frankreich zu streichen, und verlangte Exkursionen zu „bedeutsamen Stätten der deutschen Geschichte“, statt Schülerfahrten zu Gedenkstätten des NS-Unrechts zu bezuschussen. Die AfD-Fraktion im Stadtrat von Braunschweig sprach sich gegen Zahlungen an die KZ-Gedenkstätte Schillstraße aus.

Der Schrecken als Standortfaktor

Auf den ersten Blick wirkt dies wie ein Rückfall in die zeithistorische Abwehrhaltung der Nachkriegszeit, und sie bedient sich desselben semantischen und argumentativen Arsenals. Aber sie unterscheidet sich von ihm zum einen darin, dass sie den Holocaust keineswegs übergeht oder gar leugnet, sondern unbefangen als historisches Faktum hinnimmt; und zum Zweiten darin, dass sie den Erinnerungskonsens immer nur punktuell angreift. Die rechtspopulistische Herausforderung zielt weniger auf das Geschichtsbild als auf den Tabubruch, mehr auf die schockierende Geste als auf die substanzielle Infragestellung; sie zielt auf Provokation und nicht auf Substitution. Im Vordergrund steht die immer gleiche Skandalerzeugung, darum folgt der Provokation regelmäßig das Dementi. Das mag sich mit der Verfestigung der institutionellen Strukturen der AfD und allein der geplanten Gründung einer parteinahen Stiftung mit fast 1000 Mitarbeitern in den kommenden Jahren ändern. Gegenwärtig aber präsentiert sich der organisierte Rechtspopulismus vor allem reaktiv. Anders als sein Weimarer Vorgänger setzt er keine Agenda, formuliert er kein historisches Gegennarrativ.

Ist damit die Gefahr gebannt? Nein, die eigentliche Ursache für die Krise der Aufarbeitung liegt nicht in der nationalstolzen Einschränkung, sondern in der selbstbestätigenden Entgrenzung unseres historischen Aufklärungsanspruchs. Die Würde des Erinnerungsbegriffs hat sich abgenutzt, die Kommerzialisierung und Banalisierung der Auseinandersetzung mit historischen Lasten zeigt sich allenthalben. KZ-Souvenirs und Auschwitz-Selfies sind bekannte Phänomene geworden. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist eine Touristenattraktion, die für Erschütterung und Entspannung gleichermaßen zur Verfügung steht. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch hat es zu einer Ästhetik des Grauens gebracht, die die Filmmusik von „Schindlers Liste“ bei den Olympischen Winterspielen in Südkorea zur Choreografie deutscher Eiskunstlauf-Olympioniken erklingen lässt. Der Schrecken ist vom Stigma zum Standortfaktor geworden.

Nicht weniger augenfällig ist die zunehmende Ritualisierung und Verallgegenwärtigung der Auseinandersetzung mit historischer Schuld. Norbert Freis 2014 gestellte Frage, „ob es nicht auch ein Zuviel des Guten gibt“, ist unbeantwortet geblieben. Stattdessen zeichnet sich unsere Zeit durch die konstante Höhe bundesstaatlicher Förderanträge für Erhalt und Neuschaffung von Gedenkstätten aus – und durch die Debatte, ob Schülerbesuche von Gedenkstätten verpflichtend sein sollten. In dieselbe Richtung weist die eigentümliche Engführung von wissenschaftlicher Zeitgeschichte, staatlicher Geschichtspolitik und öffentlicher Geschichtskultur. Wir leben in einer wechselseitigen Referenz- und Bestätigungskultur dieser drei Ebenen. Sie schlägt sich auch darin nieder, dass die deutsche Zeitgeschichtsforschung nicht unerhebliche Lenkungsimpulse von der bundesstaatlichen Programmförderung bezieht.

Wie eng Verallgegenwärtigung und Normierung zusammenhängen, lehren die gesetzlichen Einhegungen des Umgangs mit historischer Schuld. Sie reichen von der Strafbewehrung der Holocaustleugnung bis zum im polnischen Sejm verabschiedeten Gesetz, das denjenigen mit Gefängnis bedroht, der die deutschen Vernichtungslager in Polen als „polnisch“ bezeichnet oder überhaupt der polnischen Nation eine Mitverantwortung für NS-Verbrechen zuschreibt. Einen weniger räumlich als zeitlich ausgreifenden Geschlossenheitsanspruch verfolgen auch Initiativen, die die historische Dekontamination von Straßennamen betreiben.

Der Elan dieser historischen Reinigungsbemühungen steht in guter demokratischer Tradition, markiert aber zugleich das Problem: Im selben Maße, in dem der opferzentrierte Aufarbeitungskonsens zum selbstverständlichen Fundament unserer politischen Kultur wurde, hat er begonnen, sein aufrüttelndes Potenzial einzubüßen. Die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit verlangt uns nichts mehr ab, weil sie uns selbst nicht einschließt und weil sie keine klaren Gegner mehr kennt: 2018 halten 93 Prozent aller Deutschen von 16 bis 92 Jahren die Erinnerung an die Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern für einen wichtigen oder den wichtigsten Inhalt des Geschichtsunterrichts.

Mit dem Sieg der schmerzhaften Aufarbeitung über die bequeme Verdrängung hat sich der Anspruch auf kritische Bewältigung der Vergangenheit in die Realität einer historischen Legitimation der Gegenwart verwandelt. Unser Geschichtskonsens ist wohlfeil geworden und das Projekt der historischen Aufklärung zur Realität einer historischen Selbstbestätigung, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder reproduziert und ritualisiert.

Hier liegt die eigentliche Herausforderung der heutigen Erinnerungskultur: in der leeren Beschwörung eines Aufklärungsgestus, der unbemerkt in Konformität umgeschlagen ist und seine innere Krise durch erinnerungskulturelle Geschäftigkeit und geschichtspolitische Unduldsamkeit zu verbergen trachtet.

Martin Sabrow

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