Joachim Gauck im Bundestag: "Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz"
70 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee wird in ganz Deutschland dieses Ereignisses gedacht. Bundespräsident Joachim Gauck sprach im Bundestag. Am Nachmittag wird er in Auschwitz erwartet.
In seiner Rede bei der zentralen Gedenkfeier im Bundestag zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren hat Bundespräsident Joachim Gauck vor einem Schlussstrich unter den Holocaust gewarnt. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, sagte er am Dienstag in einer Gedenkstunde des Bundestages. „Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes.“ Aus dem Erinnern ergebe sich ein Auftrag. „Er sagt uns: Schützt und bewahrt die Mitmenschlichkeit. Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen.“ Gaucks Mahnungen stehen auch vor dem Hintergrund einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann Stiftung, nach der sich eine große Mehrheit der Deutschen nicht mehr mit dem Holocaust beschäftigen will. 81 Prozent möchten demnach die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“. 58 Prozent wollen einen Schlussstrich ziehen.
"Gewiss werden nachfolgende Generationen neue Formen des Gedenkens suchen", sagte Gauck. "Und mag der Holocaust auch nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deutscher Identität zählen, so gilt doch weiterhin: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz." (Den Redetext lesen Sie hier im Wortlaut)
Die Erinnerung an den Holocaust bleibe eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. "Er gehört zur Geschichte dieses Landes. Und es bleibt etwas Spezifisches: hier in Deutschland, wo wir täglich an Häusern vorbeigehen, aus denen Juden deportiert wurden; hier in Deutschland, wo die Vernichtung geplant und organisiert wurde; hier ist der Schrecken der Vergangenheit näher und die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft größer und verpflichtender als anderswo", sagte der Bundespräsident.
Joachim Gauck zeigt sich zuversichtlich in Bezug auf die junge Generation
Gauck zeigte sich zuversichtlich, dass auch kommende Generationen das Gedenken aufrecht erhalten werden. "In manchem Gespräch und in mancher Studie begegnet mir die Befürchtung, das Interesse der jungen Generation an den nationalsozialistischen Verbrechen werde schwinden. Ich teile diese Sorge nicht, bin mir aber bewusst, dass sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weiter verändern wird und verändern muss." Viele Zeitzeugen hätten die Vergangenheit verdrängt, ihre Kinder die Verdrängung beklagt.
"Bei den Enkeln zeigt sich jetzt, dass zunehmende Distanz auch von Vorteil sein kann. Die Jungen können sich der schambehafteten Vergangenheit offener und uneingeschränkter stellen. Es überrascht immer wieder, in welchem Maße gerade Enkel und Urenkel verschüttete, tabuisierte Familiengeschichten erforschen, die jüdische Vergangenheit ihrer Wohnhäuser und Stadtteile erkunden und sich in Biographien von Verfolgten und Verfolgern versenken. Und wie sie in Menschen, die Juden retteten, nicht allein moralische Vorbilder sehen, sondern auch den Gegenbeweis zur alten These: Man hätte ja doch nichts tun können!"
Bundestagspräsident Norbert Lammert verweist auf den Umgang mit der Vergangenheit
Zuvor hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im Bundestag erklärt, die Nachgeborenen seien für die Vergangenheit nicht verantwortlich, wohl aber für den Umgang mit dieser Vergangenheit. Es gelte, staatlich angeordnete und organisierte Verbrechen „nirgendwo“ und „an keinem Platz der Welt“ wieder geschehen zu lassen. Die Deutschen müssten sich im Bewusstsein ihrer historischen Verantwortung den drängenden humanitären Herausforderungen der Gegenwart stellen. Auschwitz stehe als Synonym für den „historisch beispiellosen industrialisierten Völkermord“ und dafür, was Menschen Menschen antun könnten, sagte Lammert. Dem europaweiten Vernichtungskrieg der Nazis, den Ghettos und Lagern sei die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung vorangegangen, „für alle sichtbar, die sehen wollten“, erinnerte er. Lammert schloss in das Gedenken an die Opfer auch diejenigen ein, die den Nazis Widerstand geleistet hatten, sowie die Menschen, die „vom Trauma des Überlebens gezeichnet“ seien. Er forderte die Jüngeren auf, den noch Überlebenden zuzuhören und dadurch zu „Zeugen der Zeugen“ zu werden und die Erinnerung weiterzutragen. Musikalisch umrahmte das Gedenken im Bundestag der Klarinettist Ib Hausmann. Er spielte aus dem Stück „Quatour pour la fin du temps“ („Quartett für das Ende der Zeit“) des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992), der 1940 als Kriegsgefangener in einem Lager bei Görlitz interniert wurde. Dort schloss er das Quartett ab, das im Januar 1941 in der Theaterbaracke des Lagers uraufgeführt wurde.
Gedenken in Auschwitz im Zeichen der Überlebenden
Die internationale Gedenkfeier im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau steht zum 70. Jahrestag der Befreiung im Zeichen der Überlebenden. Rund 300 der inzwischen hochbetagten früheren Häftlinge wollen an die Opfer erinnern, die Auschwitz nicht überlebt haben. Unter nationalsozialistischer Herrschaft waren in dem Lager mindestens 1,1 Millionen Menschen vergast, zu Tode geprügelt oder erschossen worden oder an Krankheiten und Hunger gestorben. Eine Million waren Juden. Vor Staats- und Regierungschefs sowie Regierungsmitgliedern aus rund 40 Ländern werden drei ehemalige Auschwitz-Häftlinge stellvertretend für die rund 300 anwesenden Überlebenden das Wort ergreifen. Als einziger Politiker wird der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski ein kurzes Grußwort sprechen.
Der russische Präsident Wladimir Putin ist nicht dabei. In Russland gab es zum Teil empörte Reaktionen, dass er als Vertreter der Befreier nicht explizit als Ehrengast eingeladen worden war. Die Gedenkstätte Auschwitz wies allerdings darauf hin, dass die Gedenkfeier nicht von der Warschauer Regierung organisiert werde. Es sei jedem frei gestellt sei, zu kommen. Offizielle Einladungen habe Polen an niemanden verschickt.
Deutschland wird bei der Veranstaltung am Nachmittag von Bundespräsident Joachim Gauck vertreten. Er hält zuvor eine Gedenkrede im Bundestag in Berlin. Das Parlament kommt zu einer Sondersitzung zum Gedenken an die Befreiung des Lagers vor 70 Jahren zusammen. Auch in Jerusalem, New York, Prag und anderen Städten wird am Dienstag an die Holocaust-Opfer erinnert.
Als Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreiten, fanden sie dort rund 7500 kranke und entkräftete Häftlinge, die die SS zurückgelassen hatte, als sie Zehntausende Gefangene auf die Todesmärsche in den Westen zwang. Das Lager im Süden des besetzten Polen war das größte der deutschen Vernichtungslager. Die allermeisten Opfer waren Juden. Aber auch Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene, Polen, Homosexuelle und politische Häftlinge wurden in Auschwitz getötet. (mit dpa)