Ausstellung in Nürnberg: "Die Vogelperspektive": Unser Bild von der Welt
Einladung zum Weiterdenken- und Selberschauen: „Die Vogelperspektive“ in der Kunst, eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.
Mit grimmigem Blick rammt der Erzengel den Speer in die Kehle des Drachen. Es ist ein endzeitlicher Kampf zwischen Gut und Böse, den Dürer da inszeniert, im zehnten Holzschnitt seiner „Apocalipsis cum figuris“ von 1498. Michael ist umringt von weiteren Kämpfern mit Schwert, Pfeil und Bogen, im Hintergrund dräut ein pechschwarzer Himmel. Doch unten, auf der Erde, ist alles friedlich, liegt ein Dorf zu Fuße der Berge, wachsen Obstbäume, liegen Schiffe auf dem See vor Anker – ein fast schon ironischer Kontrast zum stürmischen Geschehen in den Wolken, auf das es Dürer eigentlich ankommt. Der Blick auf die Landschaft, den er hier übt, ist tatsächlich alles andere als nebensächlich. In der Ausstellung „Von oben gesehen. Die Vogelperspektive“, die Kuratorin Yasmin Doosry für das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg entwickelt hat, steht er sogar im Zentrum.
Er dokumentiert eine Revolution des Sehens und damit auch des Selbstbewusstseins. Jahrhundertelang ist es alles andere als selbstverständlich, dass Menschen die Welt von oben anschauen – diese Perspektive ist natürlich den Göttern reserviert. Im antiken Griechenland thronen sie bekanntlich im Olymp, Moses muss auf den Sinai steigen, um die Gesetzestafeln überreicht zu bekommen. Wer an dieser Ordnung etwas ändern will – Ikarus, Phaeton, Turmbau zu Babel – wird drastisch bestraft.
Petrarca und das innere Auge
Eine Weltsicht, die das Christentum unverändert übernimmt, das „Auge Gottes“ prangt in vielen Kirchen oben an der Decke und zwingt den Betrachter, den Kopf in den Nacken zu legen. Der Tag, an dem sich das ändert, ist genau bekannt: Petrarca erklimmt am 26. April 1336 den Mont Ventoux in der französischen Provence, richtet seinen Blick mit wissenschaftlichem Erkenntnisdrang auf die Natur, von den Alpen bis zur Rhône – und bekommt sogleich ein schlechtes Gewissen ob seiner Anmaßung: „Da ließ ich es mir genug sein mit dem, was ich von dem Berg gesehen hatte, und wandte das innere Auge auf mich selbst.“ Aber sein Bericht gilt als erstes Dokument einer Bergbesteigung zum Selbstzweck, zum Zweck der individuellen Vervollkommnung.
Es ist ein Manko der ansonsten sehr reichhaltigen Nürnberger Ausstellung, dass sie zwar Petrarca erwähnt, aber weitere historische Ursachen des kunst- und menschheitsgeschichtlichen Umschlags, den sie selbst postuliert, im Ungefähren belässt. So muss der Besucher spekulieren, warum 150 Jahre nach Petrarca in der Renaissance plötzlich Künstler wie Dürer anfangen, mit „Überschaulandschaften“ zu experimentieren, ideale Städte zu zeichnen und – mangels eigener Anschauung – reale Städte in der Phantasie aus der Vogelperspektive abzubilden. Allen voran natürlich Jerusalem, das bei Erhard Reuwich (in Bernhard von Breydenbachs 1486 erschienenem „Peregrinatio in terram sanctam“) dem Vorbild bereits verblüffend nahekommt.
Venedig aus der Vogelperspektive
Höhepunkt der Entwicklung – und ein Höhepunkt der Nürnberger Ausstellung – ist Jacobo de’ Barbaris monumentaler Plan Venedigs aus der Vogelperspektive von 1500, der ganz ohne Flugzeug nur aufgrund genauer Vermessung und mathematischer Berechnung der Perspektiven entstanden ist. Das Sujet „Großstadt von oben“ hat auch im 20. Jahrhundert nichts an Attraktivität eingebüßt, wie ein Entwurf Otto Huntes für den Film „Metropolis“ (1929) zeigt – und Le Corbusiers berüchtigter „Plan Voisin“, der einen Komplettabriss des Pariser Zentrums und seinen Ersatz durch punktförmige Hochhäuser vorschlägt. Ein Plan, den dann übrigens ironischerweise ausgerechnet DDR-Städtebauer genau so im Zentrum von Berlin, auf der Fischerinsel, in die Tat umgesetzt haben.
Erstaunlich spät, erst im 19. Jahrhundert – lange nach Petrarca –, entdecken die Menschen die Berge als bewusstseinserweiternden Möglichkeitsraum, als Gelegenheit, der göttlichen Inspiration näher zu sein – und ganz profan als Ausflugsziel. Zum besonderen Hit avanciert das Schweizer Rigi-Massiv, Franz Niklaus König zeigt um 1820, eher kunstgewerblich, einen Sonnenaufgang auf dem Rigi-Kulm, dem Gipfel. Fast hundert Jahre später, 1918, ist für Ernst Ludwig Kirchner, der „Blick ins Tal“ dagegen zugleich Blick in eine zerklüftete, zerrissene Seelenlandschaft. Und Martin Kippenberger präsentiert sich auf einer Fotoserie von 1989 im Businessanzug zwischen den alpinen Felsen: ein Fremdling, der den Habitus des Bürgers, den ungläubigen Blick des Städters angesichts des Naturschauspiels der Berge zitiert und zugleich mit der Sehnsucht spielt, es könnte diese Perspektive noch geben.
Ólafur Elíasson entdeckt die Ästhetik von Luftbildern
Dass die Überschau immer auch zugleich Herrschaftsansprüche markiert, illustrieren viele Karten von Nürnberg und Umgebung, auf denen deutlich die „Circumvallationslinie“ aus dem 30-jährigen Krieg zu sehen ist und der wirtschaftlich bedeutende Reichswald. An drei Globen lässt sich anschaulich ablesen, wie mit der immer exakteren Erfassung der Erde die Besitzansprüche wachsen: Martin Behaims „Erdapfel“ von 1491, der erste Globus überhaupt, kennt noch kein Amerika, der Niederländer Willem Janszoon Blaeks zeigt 1620 die Konturen der Kontinente schon sehr viel genauer. Im Exemplar von John und William Gay (London 1816) ist die Erde schließlich bis auf die Polargebiete mit wissenschaftlicher Genauigkeit wiedergegeben: Das britische Weltreich ruhte auch auf exakter Kartografie. 200 Jahre später kitzelt Ólafur Elíasson in seinen „Cartographic Series“ die Ästhetik von Luftbildern, die einst für behördliche Zwecke aufgenommen wurden, wieder heraus.
Der neu gewonnene Blick auf die Welt: Kirchtürme, Militär, Google Earth.
Eine andere Möglichkeit, sich dem neu gewonnenen Blick auf die Welt von oben hinzugeben, sind Kirchtürme, vor allem der Wiener Stephansdom. Adalbert Stifter beschreibt 1844, wie ihm die Stadt von hier oben in der ganz subjektiven Wahrnehmung fremd und abenteuerlich wird. Dass die Türme auch der wissenschaftlichen Erfassung dienen, zeigt der beeindruckende fotografische Panoramablick, den vermutlich Leopold Weiß 1860 vom Stephansdom aus angefertigt hat, etwa die „Ansicht gegen das Stubenthor“: Das Glacis, der seit Jahrhunderten aus militärischen Gründen freigehaltene Bereich rund um die mittelalterliche Stadtmauer, ist noch deutlich sichtbar, die Ringstraße noch nicht gebaut.
Die andere Metropole, die im 19. Jahrhundert die Vogelflugfantasien inspiriert, ist natürlich Paris. Hier stieg die Montgolfière empor, und Victor Hugo verlegt Teile seines Romans „Der Glöckner von Notre- Dame“ über die Dächer, die Fratzen der Wasserspeier, die an der Kathedralenfassade prangen, avancieren zum Symbol der Großstadt schlechthin. In einem Gemälde des Jugendstilmalers Karl Schmoll von Eisenwerth grinst eines dieser Monster in den Himmel, während unter ihm die Pariser Lichter in der Nacht verschwimmen. Exponate aus Berlin sind, kurioserweise, in der Ausstellung nicht vertreten. Ausgerechnet die Überflieger-Metropole der Moderne soll niemand von oben angeschaut haben?
Wie Google Earth das Bild auf die Welt verändert
Logisch, dass sich spätestens mit der Entwicklung der ersten Flugzeuge auch das Militär dafür interessiert, Gelände und Topografie aus großer Höhe zu betrachten: Die Ausstellung illustriert das mit Fotos, die die „Bayrische Fliegerabteilung 304b“ während des Ersten Weltkriegs in Palästina aufgenommen hat, und mit Bildern der U.S. Army aus dem Zweiten Weltkrieg, die wiederum Gerhard Richter künstlerisch bearbeitet hat. Interessant, dass in der Kunst der militärische Blick schon sehr viel früher eine Rolle gespielt hat. Albrecht Altdorfer zeigt den „Sieg Karls des Großen über die Avaren bei Regensburg“ (1518) aus der Luft, tausend Speere starren wie Igel in den Himmel, aber so gleichmäßig, als sei jemand mit der Bürste durchgegangen. Und immer wieder Dürer, schließlich sind wird in Nürnberg: Seine „Belagerung einer Festung“ (1527) ist als didaktisches Anschauungsmaterial gedacht.
Die Möglichkeit, die Welt aus dem Flugzeug zu sehen, inspiriert Kasimir Malewitsch schon im frühen 20. Jahrhundert zu einer Kunst der abstrakten Kreise, Dreiecke und Flächen. 100 Jahre später schafft Nanne Meyer, erst vor kurzem mit dem Hannah-Höch-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet, Papierarbeiten, die wie gründlich durchgerüttelte Landkarten anmuten. Natürlich muss vieles im Germanischen Nationalmuseum weggelassen werden – angeboten hätte sich etwa eine Reflexion darüber, wie ein Massenmedium wie Google Earth, das wilde Raus- und Reinzoomen auf die Welt das Bild verändert, das wir uns von ihr machen. In ihrer schlaglichtartigen Fülle ist die Nürnberger Ausstellung trotzdem eine Einladung zum Weiterdenken – und zum Selberschauen. Man steigt nie zweimal auf den gleichen Kirchturm.
bis 22. Februar, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, www.gnm.de
Udo Badelt
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