„Swing Time“ von Zadie Smith: Und Tracey tanzt
In „Swing Time“ erzählt die englische Schriftstellerin Zadie Smith von den Wirren und Wagnissen zweier Lebenswege und den Schwierigkeiten der Herkunft.
Wer Zadie Smith’ Roman „Swing Time“ zu lesen beginnt, könnte sich zunächst an Elena Ferrantes vierteiligen Beste-Freundinnen-Bildungsroman erinnert fühlen. Smith erzählt von zwei Mädchen, die sich natürlich nicht im Neapel der Nachkriegszeit kennenlernen, sondern in Londons Nordwesten der Achtzigerjahre, in Kilburn, dem Hometurf von Smith, überdies ihr bevorzugter literarischer Schauplatz.
Beide sind sie „coloured people“, haben den „identischen Braunton“, als hätte man ein Stück hellbraunen Stoff durchgeschnitten, um uns beide daraus zu machen“, beide haben sie jeweils ein Elternteil mit weißer und mit schwarzer Hautfarbe, beide werden für einen Tanzkurs in einer Kirche angemeldet, sie verbindet die Leidenschaft für den Tanz, und beide können sie unterschiedlicher trotzdem nicht sein: die namenlose Ich-Erzählerin, deren Mutter politisch engagiert ist, gerade im Viertel, deren Vater der weißen britischen Arbeiterklasse entstammt. Und Tracey, die nur bei ihrer doch etwas prolligen Mutter aufwächst, weil wiederum ihr Vater die Familie verlassen hat, zudem Kleinkrimineller ist und hin und wieder im Knast sitzt.
Bildungsroman auf verschiedenen Ebenen und Kontinenten
Allerdings rückt Smith zunehmend die Gegenwart ihrer Erzählerin in den Fokus. Diese arbeitet als persönliche Assistentin für eine erfolgreiche australische Pop-Musikerin, Aimee, eine Mischung aus Madonna und Kylie Minogue, und hat letztendlich ihr Ich, ihr gesamtes Leben an diese abgetreten. Dazu gehören wiederholte Reisen in ein westafrikanisches Land, vermutlich Gabun, weil Aimee hier in einem Dorf eine Schule für Mädchen finanziert und bauen lässt.
So platziert Smith ihren Bildungsroman geschickt auf verschiedene Ebenen und Kontinente, um wie in ihrem Erfolgsdebüt „Zähne zeigen“ oder dem Roman „London NW“ zu diskutieren, dass ähnliche soziale Startbedingungen auf völlig unterschiedliche Lebenswege führen können. Aber auch, wie kompliziert-komplex der ethnokulturelle Diskurs ist, wie zweifelhaft und schwierig es ist, Identitäten allein über die Hautfarbe zu konstruieren. Zum Beispiel gilt die Erzählerin in Afrika nicht nur ihres sozialen Status’ wegen als Ausnahmeerscheinung, sondern weil sie wegen ihrer Herkunft und helleren Hautfarbe fast als „Weiße“ wahrgenommen wird.
An manchen Stellen etwas überladen
Smith, die in ihrem fünften Roman erstmals die Ich-Perspektive verwendet, ist eine gute, routinierte Erzählerin. Unmerklich wechselt sie die Zeitebenen, vor einem aktuellen popkulturellen Hintergrund bringt sie gleich noch die Kulturgeschichte des Stepptanzes unter, und ihre Settings sind übersichtlich-detailliert, zudem authentisch, in London, Aimees Entourage oder Westafrika. Allerdings wirkt „Swing Time“ an manchen Stellen etwas überladen. Da muss hier noch der Vormarsch des islamischen Fundamentalismus in Afrika thematisiert werden, dort die Geschichte Madonnas und ihrer Adoption von vier Kindern aus Malawi, nachgebildet in der Person von Aimee.
Was alles angeht, würde Smith darüber hinaus nicht die Lebensgeschichte von Tracey zuweilen sehr aus den Augen verlieren, um sie gegen Ende des über sechshundert Seiten starken Romans fast gewaltsam wieder hineinzuzwängen. Tracey ist nach einer kleinen Karriere als Tänzerin dort gelandet, wo sie ursprünglich herstammt, der Sozialbausiedlung Kilburns, mit Kindern von drei verschiedenen Vätern: „Tja, wie du siehst, hab ich Vanille, Mokka und Schokolade durchprobiert, und weißt du, was mir dabei klar geworden ist? Innen drin steckt immer derselbe Scheiß: ein Mann.“
Der Roman lässt viele Fragen offen
Und die kinder- und liebelos bleibende Ich-Erzählerin? Ist vielleicht das größte Fragezeichen dieses Romans. Das Leben an der Seite Aimees hat sie vollkommen ihrer Identität beraubt. Wer ist sie eigentlich? Was will sie? Wohin zieht es sie? Diese Fragen beantwortet „Swing Time“ nicht – genau wie jene, ob sie es besser getroffen hat, weil sie am Ende ihre Freiheit wiedererlangt. Oder doch Tracey mit ihren drei Kindern.
Zadie Smith: Swing Time. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 627 Seiten, 24 €.
Gerrit Bartels
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