Kultur: "Zähne zeigen": Des Chaos wunderliche Kinder
Es war einmal ein kleines dunkelhäutiges Mädchen namens Sadie. Geboren 1975 in London, lebte Sadie mit ihren Eltern, einer Psychotherapeutin jamaikanischer Abstammung und einem englischen Fotografen, in Willesden, einem nicht besonders aufregenden Teil Londons: viele Nationalitäten, wenig Trubel, eine ruhige Vorstadtatmosphäre.
Es war einmal ein kleines dunkelhäutiges Mädchen namens Sadie. Geboren 1975 in London, lebte Sadie mit ihren Eltern, einer Psychotherapeutin jamaikanischer Abstammung und einem englischen Fotografen, in Willesden, einem nicht besonders aufregenden Teil Londons: viele Nationalitäten, wenig Trubel, eine ruhige Vorstadtatmosphäre. Aber wenn die Familie in den Ferien ins beschauliche und sehr britische Devon fuhr und Sadie einen Süßigkeitenladen betrat, wurde sie komisch angesehen und sehr genau beobachtet - bei diesen schwarzen Gören weiß man ja nie... Also versuchte das kleine Mädchen, besonders brav und nett zu wirken, "dreimal braver als die anderen Kinder im Laden, damit alle wussten, dass ich nichts Schlimmes tun würde." Und in der Schule war Sadie sehr fleißig und sehr ehrgeizig. Mit 14 änderte sie ihren Namen in Zadie - es schien ihr der richtigere zu sein, ein wenig anders, ein wenig exotisch, aber immer noch sie selbst. Mit sechs Jahren hatte Sadie angefangen, Gedichte und kleine Geschichten zu schreiben. Wenig später ahmte sie Agatha Christie nach. Mit 18 verschlang sie Autobiographien und Werkstattberichte von Schriftstellern. Während ihrer Collegezeit in Cambridge wurden Verlage auf Zadie aufmerksam und zahlten ihr angeblich aufgrund eines 80-seitigen Exposés einen Vorschuss in Höhe von 250 000 Pfund für zwei Romane. Das Mädchen konnte sein Glück kaum fassen und schrieb.
Mit 25 ist Zadie Smith nun ein Star. 1999 erschien ihr Roman "White Teeth", und die englische Kritik konnte ihr Glück kaum fassen: Ein Erstlingswerk! Gesellschaftskritisch! Witzig! Dick! Von einer Frau! Dunkelhäutig! Gut aussehend! Schlagfertig! Multikulturell! Für die Familiengeschichte rund um die beiden Freunde Archie Jones und Samad Iqbal, wohnhaft in Willesden, verwurzelt in England, Jamaika und Bangladesh, werden Vorbilder von Hanif Kureishi über Edward Said und Salman Rushdie bis hin zu den Märchen aus 1001 Nacht zitiert. Der Roman gewann unter anderem den Whitbread-Preis für das beste literarische Debüt - und als er nicht auf der Liste für die wichtigste britischen Auszeichnung, den Booker Preis, stand, waren Londons Literaturkreise entsetzt.
Wann immer das Land nun ein akutes Problem mit Frauen, der Jugend oder den Immigranten hat, soll Zadie Smith Antworten geben. Sie genießt ihre Berühmtheit, ihre Rolle als demoskopische Traumfrau, nur manchmal macht sie ihr Angst, meistens wundert sie sich. "Als sei multikulturelle Identität ein Fachgebiet", hat sie dem "Guardian" gesagt, "und nicht einfach eine Tatsache - es gibt eben Menschen unterschiedlichster Herkunft auf diesem Planeten."
Mischung aus Napoleon und Mohammed
So auch in ihrem Roman. Archie Jones, geboren 1927, ist ein harmloser, auf liebenswerte Weise verklemmter kleiner Engländer, einer jener Menschen, "die bloß dazu da sind, die Masse zu bilden". Er ist stolz auf seine Heimwerkerkünste, trifft wichtige Entscheidungen vorsichtshalber mit einem Zwei-Pence-Stück und ist in dem beleidigenden Sinne ein guter Mann, in dem Frauen einen Mann "nett" finden. Clara zum Beispiel, seine 28 Jahre jüngere Frau, eine langbeinige Jamaikanerin schwarzer Hautfarbe, die Archie geheiratet hat, weil er kein Zeuge Jehovas ist und keine Vespa fährt.
Am liebsten verbringt Archie seine Zeit mit Samad, seinem bengalischen Freund aus alten Kriegstagen. Für Normalsterbliche ist Samad ein gottesfürchtiger, besserwisserischer Oberkellner in einem indischen Restaurant, in seinen eigenen Augen aber ist er eine Mischung aus Omar Sharif, Napoleon und dem Propheten Mohammed. Samad versucht, mit Alsana eine Ehe zu führen, was schon allein deshalb nicht einfach ist, da Alsanas Streitlust lediglich von ihrem beeindruckenden Gewicht übertroffen wird. Die beiden haben Zwillingssöhne, Millat und Magid, die sich im Laufe der Geschichte zu einer Art Al Capone und Siddharta entwickeln. Archie und Clara wiederum haben eine Tochter, Irie, die unsterblich in Millat verliebt ist, als dicke Sandkastenfreundin aber keine Chance bei dem Frauenheld hat.
Das ist, kurz gesagt, der Plot, sehr kurz gesagt. Denn es geht nicht nur um diese sieben sehr unterschiedlichen Charakterköpfe. Es geht vor allem um die unzähligen Pfeile, die man zwischen ihnen, um sie herum und durch sie hindurch zeichnen müsste. Die außerdem noch zu zahlreichen Nebenfiguren führen, von fundamentalistischen Metzgern und fanatischen Tierschützern über verführerische Musiklehrerinnen bis hin zu den Chalfens, einem Psychoanalyse-erfahrenen, intellektuellen jüdischen Ehepaar, das von Millat und Irie entzückt ist und die eigenwilligen Freunde ihres schüchternen Sohnes mit postkolonialer Hingabe in bessere Menschen zu verwandeln sucht. Und dann wären da noch Exkurse in die Familiengeschichte Claras, Alsanas, Samads, Bangladeshs oder der Glenard Oak Gesamtschule.
Um die Begeisterung nachzuvollziehen, die Smith in Großbritannien ausgelöst hat, müsste man sich vielleicht ein deutsches Pendant vorstellen. Zadie Smith wäre eine Mischung aus Sabrina Setlur, Benjamin von Stuckrad-Barre und Cem Özdemir. Geschrieben hätte sie einen Roman, der von einem Berliner Busfahrer und einem türkischen Dönerbudenbesitzer handelt. Diese wären beispielsweise mit einer russischen ehemaligen Prostituierten und einer ostdeutschen Friedensaktivistin verheiratet; das osmanische Reich würde ebenso eine Rolle spielen wie das Dritte, der Fall der Mauer wäre ein zentrales Thema ebenso wie der Lippenstiftverbrauch 16-jähriger türkischer Töchter.
Von Überassimilation bis zum bewaffneten Widerstand dekliniert Zadie Smith sämtliche Krankheitsbilder durch, die eine zerissene Seele mit vielen Identitäten in einer ruhigen Vorstadt mit vielen Nationalitäten heimsuchen können. Vor allem Samad hat schreckliche Angst, von der englischen Kultur aufgesogen zu werden - was ihn nicht von seinen geliebten Jogginghosen vor dem BBC-Wetterbericht abhält, ihn aber dazu bringt, wenigstens einen Sohn, Magid, in die Heimat zurückzuschicken - um festzustellen, dass nach Jahren kein gottesfürchtiger Moslem, sondern ein weißgekleideter Gentleman mit feinsten britischen Manieren zurückkehrt, der Anwalt werden will: "Seine Zähne putzt er sich sechsmal am Tag. Seine Unterwäsche, die bügelt er. Man könnte genauso gut mit David Niven frühstücken." Millat hingegen hat sich mittlerweile in London moslemischen Fundamentalisten angeschlossen. Samad versteht die Welt nicht mehr.
Aber Samad fühlt sich ohnehin von Gott bei der Geburt vertauscht und nur versehentlich auf den Platz eines Oberkellners gesetzt. Ihre Herkunft ist für die Helden nicht der einzige Unruhestifter. Eine mindestens ebenso große Rolle spielen Pubertät, Emanzipation, Midlife-Crisis, Karriesucht. Irie hasst ihre dicken Hüften, Millat weiß nicht wohin mit seinen Hormonen, Clara belegt Kurse an der Universität, Archie will sich umbringen, Marcus Chalfen ist ein exzentrischer Genforscher.
Die Zukunft wird noch lustiger
Ja, kein Thema fehlt. Und das ist ein Problem des Buches. Mitunter ist es redselig bis zur Ermüdung. Es hat den für Erstlingswerke typischen Nachteil mangelnder literarischer Ökonomie. Zudem scheint die in England viel gelobte "eigene Stimme", die jede der Figuren bekomme, bei der Übersetzung gelitten zu haben. Mitunter knirscht es ganz gewaltig bei dem Versuch, Umgangssprache zu sprechen: "Manno" sagt außer Clara wohl kein Mensch mehr mit 19, weder auf noch außerhalb von Jamaika.
Die englische Presse konzentrierte ihre Lobeshymnen auf das bunte Immigranten treiben im Roman. Die Multikulti-Ehen und -freundschaften bergen viel Chaos, aber irgendwie funktionieren sie. "Zähne zeigen" ist ein sehr optimistisches und versöhnliches Buch, voll naiver Bereitschaft, wie Archie fest daran zu glauben, dass "wir doch alle irgendwie gut miteinander auskommen müssten." Zadie Smith selbst nannte es im Londoner "Observer" "eine Art Fantasy-Roman", aber sie glaube fest daran, dass Beziehungen, wie sie sie in "Zähne zeigen" beschreibe, bereits existierten und mehr würden. Die Tatsache, dass sich nicht nur in London schwarz und weiß schon längst in die unterschiedlichsten Brauntöne aufgelöst haben, gibt ihr Recht. "Meine Generation schleppt den ganzen Ballast nicht mehr mit sich herum".
In Zukunft will sie noch weniger davon mit sich herumschleppen. Smith schreibt an ihrem zweiten Roman, Arbeitstitel "The Autograph Man". Er handelt von einem fanatischen Autogrammjäger und jüdischer Kabbalistik, und soll "viel lustiger" werden als "Zähne zeigen", den die Autorin für nicht besonders lustig hält. Das stimmt zwar nicht ganz, lässt aber darauf hoffen, dass Smith sich darauf konzentrieren wird, was sie wirklich gut kann und was auch die zweite Hälfte von "Zähne zeigen", in der die jüngere Generation im Mittelpunkt steht, zu der besseren macht: Witzige Dialoge voller Tempo und Leben, genährt von einer sehr unbekümmerten und sehr respektlosen Haltung gegenüber allem, was manchen Nationen, Autoritäten oder Süßwarenladenbesitzern heilig ist.
Iris Alanyali
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