Interview mit Zadie Smith: „Weiße sind in der Minderheit“
Ein Gespräch mit der britischen Schriftstellerin Zadie Smith über die Angst der Mittelschicht vor dem Absturz, Kinder als Accessoires und die Schwierigkeiten, Ich zu sagen.
„Gehen wir“, sagt Zadie Smith und wirft einen letzten Blick auf mehrere Stapel halb gepackter Kartons. Die 38-jährige Schriftstellerin zieht gerade um. Das Café liegt unweit des hässlichen Dozentenwohnheims in Manhattans West Village, wo die gebürtige Londonerin mit ihrem Mann und den beiden Kindern lebt, seit sie an der New York University Literatur unterrichtet. Die Frische, den Grips und die Originalität, die ihr Debüt „Zähne zeigen“ 2000 zum Weltbestseller machten, hat sie sich bewahrt. Nun erscheint „London NW“. (Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 430 Seiten, 22, 99 €.) Ein Generationenporträt, das zwei Freundinnen aus Willesden im Londoner Nordwesten und einer Handvoll ihrer Bekannten folgt: vielstimmig, klug und manchmal zum Heulen komisch.
Mrs. Smith, drei Ihrer vier Romane sind im Londoner Nordwesten angesiedelt, und ihr jüngster „London NW“ ist sogar danach benannt. Wollen Sie zur Sängerin dieses Viertels werden?
Bloß nicht! Es ist einfach so, dass sich diese Gegend gut als literarisches Pflaster eignet. Besonders Willesden spiegelt im Kleinen, was sich in vielen europäischen und amerikanischen Großstädten abspielt: Immigration, Gentrifizierung, das Platzen der Dot-Com- und Immobilienblasen, das Aufeinandertreffen verschiedener Gesellschaftsschichten, Ethnien und Weltanschauungen.
„London NW“ handelt von Leah und Natalie, zwei Freundinnen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und von unterschiedlicher Herkunft. Haben Sie sich mit Ihrem Ruf als Multikulti-Expertin angefreundet?
Nach „Zähne zeigen“ ging mir das Etikett tatsächlich ziemlich auf die Nerven. Ich dachte: Ich weiß über dieses Thema auch nicht besser Bescheid als jeder andere. Aber jetzt finde ich: doch. Immerhin bin ich in Willesden aufgewachsen. Im Gegensatz zu all den Politikern, die sich darüber verbreiten, weiß ich, wie es sich anfühlt, in der sogenannten Arbeiterschicht groß zu werden. Ich weiß, wie es ist, wenn sich die eigenen Freunde die Wohnung ihrer Eltern nicht mehr leisten können. Und ich weiß, was es heißt, in den Kreisen der Gebildeten und Arrivierten als Quoten-Schwarze hinhalten zu müssen.
Ist das ein Grund dafür, weshalb sie in „London NW“ alle weißen Figuren als solche identifizieren und die Hautfarbe der übrigen unerwähnt lassen?
Ja. Weiße sind nicht das Maß aller Dinge. Aber sie halten sich dafür. Dabei befinden sie sich global gesehen in der Minderheit. Ihre Sorgen, ihre Fernsehserien, ihre Zeitungen spielen im Alltag der Mehrheit auf diesem Planeten keine Rolle. Ich selber bin im Bewusstsein aufgewachsen, eben nicht das Zentrum der Welt zu sein. Trotzdem ärgert es mich, ständig durch dieselbe Brille angeschaut zu werden. Es passiert immer wieder, dass ich mich auf einer Party mit jemandem unterhalte, der dann in einem entsprechenden Zusammenhang sagt: Ja, aber du bist ja nicht wirklich schwarz. Nur weil ich hellere Haut und eine schmalere Nase habe als meine Brüder und als sei mein Schwarzsein deshalb nicht so schlimm. Schwarzsein ist nicht schlimm. Arm sein ist schlimm! Und Klassenunterschiede sind nun mal untrennbar mit Rassenunterschieden verknüpft.
In „London NW“ tut die Jamaikanerin/Nigerianerin Natalie alles, um dem Sozialbautenmief ihrer Kindheit zu entkommen, während die Engländerin/Irin Leah wie ein Luftballon durchs Leben treibt. Wollten Sie selber weg aus Willesden?
Nein. Ich wollte lernen, Bücher lesen...
Womit Sie es nach Cambridge und Harvard geschafft haben...
...aber es ist ein Irrtum anzunehmen, dass alle in der Arbeiterschicht den Aufstieg in die Mittelschicht anstreben. Gäbe es anständige Schulen, eine vernünftige Gesundheitsfürsorge und eine funktionierende Infrastruktur, könnte das Leben am unteren Ende der sozialen Leiter sehr lebenswert sein. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie ängstlich die Leute werden, sobald sie ein bisschen Geld haben? Meiner Erfahrung nach leben Angehörige der Mittel- und der oberen Mittelschicht in panischer Angst davor, aus ihrem Paradies vertrieben zu werden. Diese Angst übertragen sie auf alles und jeden, auf unsichtbare Krankheitserreger, auf das Essen, auf ihre Kinder.
Man will seinen Kindern die „allerbesten Möglichkeiten geben“, sagt ein Gast an einer der Dinnerpartys, zu denen die Anwältin Natalie Leah gelegentlich einlädt. Was sind denn die „allerbesten Möglichkeiten“?
Genau: Was ist Erfolg? Ich habe mein Leben nie als etwas aufgefasst, das in eine bestimmte Richtung geht. Es überraschte mich, als meine Freunde und Bekannten mit Mitte zwanzig anfingen, das Leben als eine Art Wettrennen um bestimmte Ziele zu betrachten. Wenn ich erst das Auto und das Haus und die Familie habe, dann werde ich endlich glücklich sein. Jetzt wundern sie sich darüber, dass sie es nicht sind. All die radikalen Kids, die nächtelang durchgetanzt, Drogen probiert und gegen die Regierung protestiert haben, sind völlig verspießert.
Passiert das nicht jeder Generation?
Ja. Aber meine Generation scheint sich in einem permanenten Schockzustand darüber zu befinden. Neulich wurde ich zu „Baby Loves Disco“ eingeladen. Das ist ein Rave für Eltern und ihre Kinder, der tagsüber in einem Nachtclub stattfindet. Als wären wir immer noch 26 und als sei das ganze Spießertum nur Fassade. Dabei werden alle von einem Bedürfnis nach bürgerlichen Idealen getrieben.
"Kinder sind eine Frage des Lebensstils"
Nach dem Ideal der perfekten Familie zum Beispiel. Leah will keine Kinder, Natalie hat zwei. Weshalb fühlt sich keine von beiden ihrer Situation gewachsen?
Ob man Kinder hat oder nicht, ist zu einer Frage des Lebensstils geworden. Vor 100 Jahren wurde nicht darüber diskutiert, man hatte einfach Kinder. Ich sage nicht, dass das besser war. Nur halte ich die künstlichen Komplikationen und den intellektuellen Druck, dem wir uns in dieser Hinsicht aussetzen, für ziemlich überkandidelt.
Kinder als Accessoires?
Kinder als Ersatz für etwas, das sich schwer definieren lässt. Meta ist das Lebensgefühl meiner Generation. Wir sind durchdrungen von Erfahrungen aus zweiter Hand, aus dem Fernsehen, aus dem Internet, aus ironischer Werbung. Alle warten auf das „richtige“ Leben. Und mit den Kindern soll dieses richtige Leben endlich beginnen.
Warum haben Sie selber zwei Kinder?
Mein Mann wollte welche. Ich wäre auch mit einem Hund zufrieden gewesen. Aber das Wunderbare an Kindern ist, dass man nie, nie bereut, sie zu haben, wenn sie einmal da sind.
Bleibt Ihnen neben Ihrer Familie und Ihrer Arbeit als Dozentin an der New York University genügend Zeit zum Schreiben?
Es ist schwieriger geworden. Aber wir haben ein Kindermädchen. Außerdem gehöre ich nicht zu den Autoren, die besondere Umstände brauchen, um arbeiten zu können. Mir reichen relative Ruhe – dafür habe ich Ohrenstöpsel – und ein Computer.
Fällt Ihnen das Schreiben leicht?
Überhaupt nicht. Es ist jedes Mal dieselbe Qual, jedenfalls bei Romanen. Allerdings bin ich beim Schreiben von Essays ein bisschen lockerer geworden. Hauptsächlich, weil man sich hier in den USA wirklich dafür zu interessieren scheint, was ich über eine bestimmte Sache denke. In England hat nur ein Mensch mit Doktortitel ein Recht auf eine Meinung auf einem bestimmten Gebiet.
Sie vermeiden die Ich-Form in Ihren Romanen noch immer.
Mir liegt diese französische Art zu schreiben nicht. Ich weiß auch gar nicht so genau, wer oder was ich bin. Ich könnte Ihnen keine bestimmten Eigenschaften nennen, die Zadie Smith ausmachen. Das war schon immer so. Vermutlich habe ich deshalb mein ganzes bisheriges Leben damit verbracht, mir die Existenzen anderer Leute auszumalen. Es ist nicht die einfachste, aber doch eine Art, sich aus dem eigenen Alltag davonzustehlen.
Das Gespräch führte Sacha Verna.
Sacha Verna