Interview mit Berlinale-Chef Kosslick: "Und am Sonntag geht’s um Sex"
Die 64. Berlinale steht an. Im Interview erklärt Festival-Chef Dieter Kosslick warum die Berlinale-Filme diesmal vor allem auf Kinder und Jugendliche als Protagonisten setzen. Und dann gibt er auch ein bisschen an: mit der Anzahl an Weltpremieren beim diesjährigen Festival
Herr Kosslick, dieses Jahr gibt es gleich mehrere Wettbewerbsfilme mit Kindern und Jugendlichen als Protagonisten. Wie kommt das?
Ja, da ist zum Beispiel der tschetschenische Junge im Wiener Flüchtlingslager in „Macondo“. Oder der 4-Jährige und der 9-Jährige in Edward Bergers Film „Jack“, zwei Berliner Straßenkinder. Am Schluss denkt man: Das ist unsere Stadt, das darf doch nicht wahr sein! Richard Linklater begleitet in „Boyhood“ zwei Heranwachsende aus der amerikanischen Mittelschicht über einen Zeitraum von zwölf Jahren. Jedes Mal werden die Geschicke der Erwachsenen aus der Warte der Kinder erzählt.
Was verrät das über unsere Gesellschaft?
Wenn Kinder vor der Zeit Verantwortung übernehmen müssen, besagt das nichts Gutes über die Welt. Was wir zeigen – die Nöte des Mittelstands, das Prekariat in Berlin – , ist heftig, aber letztlich „harmlos“ im Vergleich zu dem, wie es Kindern in den Sweatshops von Bangladesch, in zentralafrikanischen Slums oder auf den Müllkippen von Mexiko geht. Wenn ich mit meinem Sohn die Kinder-Nachrichten „Logo“ anschaue, wird dort häufig über Kinder in Syrien berichtet. Die weltweit größte Gruppe, die unter Krieg, Armut, Flucht und dem Irrsinn der Erwachsenen zu leiden hat, sind wohl die Kinder. Sind es 800 Millionen, eine Milliarde? Die vaterlose, elternlose Gesellschaft: Das findet in zahlreichen Berlinale-Filmen seinen Niederschlag, in Beiträgen aus Japan, Argentinien oder auch in Feo Aladags deutschem Wettbewerbsfilm „Zwischen Welten“ über den afghanischen jugendlichen Dolmetscher eines Bundeswehrsoldaten.
Und welches sind diesmal die besonders starken Länder?
Letztes Jahr waren es die Osteuropäer im Wettbewerb, dieses Jahr laufen sieben Osteuropäer im Forum. Im Wettbewerb ist Lateinamerika dreimal vertreten, auch China ist dreifach dabei: mit dem Film noir „Black Coal, Thin Ice“, dem Wüstenfilm „No Man’s Land“, der die Tradition des Spaghetti-Westerns aufgreift, und mit „Blind Massage“, der dem Zuschauer auf sehr eigene Weise Zutritt zur Welt blinder Menschen verschafft. Interessant ist, wie sich die jüngere chinesische Independent-Tradition mit Mitteln des Genrekinos mischt. Und wie in „Blind Massage“ über die verschlossene Welt der Blinden erzählt wird, was draußen in China vor sich geht.
Das Panorama zeigt außerdem zwei weitere Filme über Blinde. Ein Reflex darauf, dass wir in unserer schnellen Medienwelt den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen?
Jedenfalls eine gute Metapher. Noch ein Thema taucht mehrfach auf, Sexualität. Außer Konkurrenz zeigen wir die Uraufführung des ersten Teils der Langfassung von Lars von Triers „Nymphomaniac“ mit Charlotte Gainsbourg. Den haben wir auf den Sonntag programmiert, direkt davor läuft „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann, ein Pendant zu „Nymphomaniac“. Gerade ist John Cornwells Buch über die Geschichte der Beichte auf Deutsch erschienen. Als Katholik habe ich als Kind zigmal gebeichtet, aber ich wusste nicht, dass die Kinderbeichte erst im 20. Jahrhundert erfunden wurde. Papst Pius X. hat das Beichtalter 1905 auf sieben Jahre herabgesetzt und damit die Furcht in den Kinderseelen installiert. Cornwell führt aus, wie die Beichte auch dazu benutzt wurde, um Kinder leichter missbrauchen zu können. Eben dieser Pius X. ist auch der Patron der Pius-Bruderschaft, die in „Kreuzweg“ schreckliches Unheil bei einer 14-Jährigen anrichtet.
Haben Sie sich eigentlich um die Weltpremiere von „Nymphomaniac“ bemüht? Die kürzere Fassung beider Teile ist ja im Dezember in Dänemark gestartet.
Auf die Berlinale gehört die ungekürzte Autorenfassung, was denn sonst! Sie ist 40 Minuten länger, das ist ein intensiverer Film.
Wieso nicht erst die Langfassung in Berlin und dann der Filmstart der kürzeren Versionen? 2013 gab es viel Kritik, weil wenig Weltpremieren großer Regisseure im Hauptprogramm laufen.
Die Produktionsfirma hatte eine andere Herausbringungsstrategie. Die vollständige Fünfeinhalbstunden-Fassung hat noch keiner gesehen, davon zeigen wir den ersten Teil. Es ist doch toll, dass Lars von Trier endlich wieder auf der Berlinale ist! Das letzte Mal war er 1984 da, mit „Bilder der Befreiung“. Wobei wir sehr gespannt sind, ob er kommt.
Teil Zwei: Warum "The Monuments Men" seine Premiere nicht auf der Berlinale feiert
Die Welt beschleunigt sich immer mehr: Was gestern brandneu war, ist heute passé. Welche Folgen hat das fürs Festival?
17 von 20 Wettbewerbsfilmen sind Weltpremieren! Wir arbeiten mit der Methode: „große“ Filme, „kleine“ Filme, zeigen große Filme mit Stars und rotem Teppich, bringen aber auch neue Namen ins Spiel. Nehmen wir die vier deutschen Wettbewerbsfilme: Dominik Graf ist ein großer Name, er kommt mit der deutschen Klassik, einer Menage à trois rund um Friedrich Schiller. Nur wenige kennen Edward Berger, den Regisseur von „Jack“, das wird sich jetzt ändern. Dietrich Brüggemann zeigte 2010 in der Perspektive Deutsches Kino „Renn, wenn du kannst“, Feo Aladag war im gleichen Jahr mit „Die Fremde“ im Panorama. Es ist an der Zeit, dass die beiden im Wettbewerb laufen. Wobei wir nicht nach Aktualität auswählen: Bei Aladag geht es um den Abzug der Deutschen aus Afghanistan, Brüggemann greift den Religionswahn auf, aber es ist die Machart ihrer Filme, die uns überzeugt hat.
Die „großen“ US-Produktionen laufen außer Konkurrenz und sind mit Ausnahme von Wes Andersons Eröffnungsfilm keine Uraufführungen. Warum hatte die Berlinale nicht mal bei den zwei anderen Babelsberg-Produktionen, „The Monuments Men“ und „The Beauty and the Beast“, eine Art Vorkaufsrecht?
George Clooneys „Monuments Men“ sollten in den USA schon im Oktober starten, jetzt startet er einen Tag, bevor er bei uns als internationale Premiere läuft. Das hat mich sehr gefreut. Die Rechte für Amerika hat Sony, die Rechte für den Rest der Welt hat Twentieth Century Fox. Da müssen erstmal zwei Major Studios unter einen Hut gebracht werden! Clooney, Matt Damon, Bill Murray, John Goodman, Hugh Bonneville und Jean Dujardin, sie kommen alle nach Berlin. Und es gibt weitere Bezüge im Programm: Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“, Volker Schlöndorffs „Diplomatie“ über die letzten 24 Stunden der Nazis in Paris und „The Monuments Men“ – diese drei Spielfilme fügen sich fast zur Zeitleiste über das Ende des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommen drei Dokumentarfilme: die von Alfred Hitchcock montierten Alliierten-Aufnahmen aus den Konzentrationslagern, „German Concentration Camps Factual Survey“, dazu das Making-Of „Night Will Fall“ und der Panorama-Beitrag „Der Anständige“ über den SS-Führer Heinrich Himmler.
Was die Babelsberg-Frage noch nicht beantwortet.
Im Budget von „The Monuments Men“ stecken 8,5 Millionen Euro deutsche Fördergelder. Als ehemaliger Filmförderer sage ich Ihnen, dass kein Gesetz der Welt Produzenten zu einer ganz bestimmten Verwertung verpflichten kann. Wenn die Berlinale ein Vorrecht hätte, internationale Koproduktionen uraufzuführen, weil deutsches Geld drin steckt, wäre das schön. Aber dann würden diese Filme vielleicht sehr schnell woanders produziert.
Wieder dabei ist der Zoo-Palast als neue alte Heimat der Berlinale. Ihre schönste Zoo-Palast-Erinnerung?
Es wird ein sehr emotionaler Moment, wenn wir das Panorama dort mit dem Biopic „Yves Saint Laurent“ eröffnen. Der Zoo-Palast ist meine Berlinale, seit meinem ersten Festivalbesuch vor 31 Jahren. 2004 oder 2005 war ich mit meinem noch sehr kleinen Sohn zur Eröffnung des Kinderfilmfests dort. Fridolin schlief gerade, ich nahm ihn auf dem Arm mit aufs Podium. Nicht sonderlich klug, aber ich wollte wohl zeigen, dass ich auch ein Kind habe. Natürlich riss Fridolin in genau dem Moment die Augen auf und sah 1300 Kinder vor sich. Er hatte bestimmt den Schock seines Lebens. Wie immer saß der kleine Moritz in der drittletzten Reihe hinten links und rief „Hallo Dieter!“. Der hat mir jedes Jahr zugewunken, wenn ich reinkam. Mein erschrockener Sohn und Moritz mit den roten Haaren, das ist so ein Moment im Leben eines Festivalleiters, den man nicht mehr vergisst.
Das Gespräch führte Christiane Peitz