zum Hauptinhalt
Nazif Mujić mit seiner Familie in einer Berliner Asylbewerberunterkunft.
© Thilo Rückeis

Berlinale und Asylpolitik: Herr Mujić und die silberne Verheißung

Auf der letzten Berlinale gewann Nazif Mujić einen Silbernen Bären als bester Schauspieler. Jetzt hat der Bosnier mit seiner Familie in Berlin Asyl beantragt - und musste lernen, dass Ruhm auch bitter schmecken kann.

Der schmale, kleine Mann packt den silbernen Bären mit großen, kräftigen Händen. Dreht ihn ein paar Mal, lässt ihn nicht aus den Augen. Als sei er nicht sicher, ob er sich an der Statuette festklammern oder sie lieber aus dem Fenster werfen soll, hinaus in den finsteren Berliner Wald. Dieser Bär hat sein Leben letztes Jahr radikal verändert. Er ist sich bloß noch nicht sicher, ob zum Guten. Er stellt ihn wieder auf den Tisch, sagt: „Ich gebe den Bären zurück, wenn wir dafür bleiben dürfen.“

Mujić ist ein Rom aus Bosnien und Herzegowina. Nach Berlin ist er gekommen, um die Veränderung, die der Bär in seinem Leben angestoßen hat, zum Guten zu wenden. Der 43-Jährige hat den Bären letztes Jahr bei der Berlinale gewonnen, als bester Darsteller für seine Rolle in „An Episode in the Life of an Iron Picker – Aus dem Leben eines Schrottsammlers“. Der Film erzählt vom harten Leben einer Roma-Familie in Bosnien, von einer Frau, die ein totes Kind im Leib hat, aber nicht krankenversichert ist, kein Geld für die Operation hat und nicht behandelt wird, obwohl die Ärzte auch ohne Geld dazu verpflichtet wären. Sie ist halt eine Roma. Und von ihrem Mann, dem Schrottsammler, der um sie kämpft, Geld aufzutreiben versucht, die Ärzte anfleht, vergeblich. Und der schließlich seiner Frau das Leben rettet, mit einem Trick.

Dieser Mann ist Nazif Mujić. Er ist kein Schauspieler, er spielt sich selbst. Seine ganze Familie spielt sich selbst, auch die zwei kleinen Töchter.

Regisseur Danis Tanović hat ebenfalls einen Silbernen Bären für den Film bekommen, den „Großen Preis der Jury“. Tanović hat Übung mit dem Rummel nach solchen Auszeichnungen, 2002 gewann er den Auslands-Oscar. Für Nazif Mujić aber ist alles neu. Er, der beste Schauspieler der Berlinale 2013, ist ja Schrottsammler von Beruf. Die Hauptrolle in einem Film, die Auszeichnung mit dem Silbernen Bären, beides ist für ihn die Verheißung auf ein besseres Leben.

Auf Ruhm muss nicht Wohlstand folgen - das wissen auch die Darsteller von "Slumdog Millionär"

Mujić teilt das Schicksal von anderen Menschen, die plötzlich für kurze Zeit berühmt waren und anschließend in ihr altes Leben zurückkehren, mit großen Erwartungen. Sie warten oft lange darauf, dass mit dem Ruhm auch der Wohlstand kommt. Und oft werden sie enttäuscht. Vielen indischen Schauspielern, die in „Slumdog Millionär“ mitspielten, erging es so, auch den verunglückten chilenischen Minenarbeitern, die nach ihrer spektakulären Rettung im Jahr 2010 für kurze Zeit Weltstars waren.

Als Mujić von der Berlinale zurückkehrt in sein baufälliges, zugiges Haus, wartet er also, hoffnungsvoll. Auf Filmrollen, auf Arbeit, auf einen Geldregen. Er wartet monatelang. Es kommen ein paar Jobangebote, aber keines hat das Potential, sein Leben zu ändern.

Irgendwann im November beschließt er, nicht mehr länger zu warten und die Verheißung einzufordern. Und zwar dort, wo er sie am lautesten vernommen hatte. In Berlin. In der Stadt, in der er eine Vorstellung davon bekommen hatte, wie ein anderes Leben aussehen könnte.

Hier hat er das erste Mal ein fremdes Land betreten. Hier lief er, schlaksig, mit großen Zahnlücken, neben eleganten Menschen über den roten Teppich, und weil immer ein Übersetzer bei ihm war, konnte er Bosnisch und Romanes sprechen und alle verstanden ihn. Hier saß er im Berlinale-Palast in der ersten Reihe, stand geblendet von Scheinwerfern auf der Bühne, wurde beklatscht. Hier speiste er in guten Restaurants und übernachtete mit seiner Familie im Fünf-Sterne-Hotel.

Im November ist er wieder zurückgekommen, aber diesmal ist er nicht überwältigt. Diesmal hat er einen Plan, er will einen Job und eine Aufenthaltsgenehmigung. Und hofft, dass ihm das Team der Berlinale dabei hilft. „Berlin ist meine letzte Hoffnung“, sagt er und reckt den Bären ein wenig in die Höhe.

Im Bundesamt für Migration stellte er den Bären vor den Beamten auf den Tisch

Bis jetzt ist sein Plan allerdings nicht aufgegangen. Sein erster Weg führte ihn nicht zum Berlinale-Büro, sondern zum Bundesamt für Migration. Als er dort seinen Asylantrag stellt, holt er den Silbernen Bären aus der Tasche, stellt ihn vor den Beamten und sagt: „Das ist mein wichtigstes Dokument.“ Der Beamte schaut irritiert, dann lacht er, ruft die Kollegen, und bald machen sie Fotos von ihm und dem Bären. Einer von ihnen sagt, es sei die falsche Entscheidung, einen Asylantrag zu stellen, er habe keine Chance. Ein anderer füllt den Antrag aus und gibt ihm die Adresse eines Asylbewerberheims am Stadtrand. Dort lebt die Familie jetzt, in einem 30-Quadratmeter-Zimmer, sie duschen in Gemeinschaftswaschräumen, werden mit Essenspaketen versorgt.

2013 ist jeder Asylbewerber aus Ex-Jugoslawien abgewiesen worden. In den Begründungen heißt es, eine humanitäre Notsituation sei nicht gegeben und Armut kein Grund für Asyl. Die Große Koalition will Bosnien und Herzegowina sowie Serbien und Mazedonien sogar offiziell als sichere Drittländer einstufen. Die individuelle wie systematische Diskriminierung und Gewalt gegen Roma auf dem gesamten Balkan fällt bei den deutschen Behörden nicht ins Gewicht.

Auch der Asylantrag der Familie Mujić wird nach vier Wochen abgelehnt. In dem Brief steht, „das Asylgesuch wird abgelehnt, weil es offensichtlich unbegründet ist“. Die Familie müsse Deutschland innerhalb von sieben Tagen verlassen, andernfalls droht die Abschiebung. Aber weiter hinten steht noch, dass die Mujićs bis März in Berlin geduldet werden. Bis der schlimmste Winter in Bosnien vorbei ist.

Mujić wirft die Papiere in den Müll. Er lacht ein bisschen aufgekratzt, als er davon erzählt. Asyl war sowieso nie das, was er von Berlin erwartete. Er will ein besseres Leben, für sich, für die Familie.

Inzwischen ist er zuversichtlich, dass er nicht mehr lange warten muss. Anfang dieser Woche hat er nämlich endlich mit jemandem von der Berlinale gesprochen. Thomas Hailer, der Programmdirektor, ließ ihn in einer schwarzen Limousine vom Asylbewerberheim abholen und versprach, etwas für ihn zu tun. Er sagte, noch diese Woche würde sich ein Anwalt seinen Fall ansehen und ihm helfen.

Teil Zwei: Warum die Familie ihre Chance nicht genutzt hat

Nazif Mujić und Danis Tanović letztes Jahr auf der Berlinale.
Nazif Mujić und Danis Tanović letztes Jahr auf der Berlinale.
© picture alliance / dpa

„Wenn es den Film und alles, was danach kam, nicht gäbe, dann hätte ich nie etwas anderes gesehen und nie die Hoffnung auf ein besseres Leben gehabt“, erklärt Mujić. Dann wäre er jetzt in seinem Dorf, würde Eisen sammeln und frieren, wie immer. Aber das kann er jetzt nicht mehr, denn die anderen Schrottsammler glauben, er ist ein Star, er ist reich, er soll ihnen den kargen Lohn nicht wegnehmen.

Berlinale-Chef Dieter Kosslick ist sich bewusst, dass es gerade für Laiendarsteller, für Menschen, die sich selbst spielen, eine große Veränderung ihrer Lebenssituation bedeuten kann, wenn sie plötzlich im Rampenlicht stehen. „Nazif Mujićs Schicksal ist uns wichtig, und im Rahmen unserer Möglichkeiten wollen wir ihn natürlich unterstützen“, sagt er. Das Publikum und die Jury haben den Film geliebt, die Berlinale könne ihre Auswahl der Filme nicht durch Spekulationen auf mögliche Auswirkungen einschränken.

Nazif Mujić blickt zu seinen beiden kleinen Töchtern, die auf dem Linoleumboden spielen. Hinter ihm auf dem abgewetzten Sofa sitzt seine Frau Senada Alimanović, im Arm hält sie ihren jüngsten Sohn. Nach der im Film auf so erschütternde Weise ertrotzten lebensrettenden Operation wurde sie wieder schwanger, Danis ist jetzt eineinhalb. Sie haben ihn nach Danis Tanović benannt, dem Regisseur. Mit ihm hatten die Hoffnungen schließlich angefangen.

Mujić hatte nach der Berlinale seine Chance auf ein besseres Leben "nicht genutzt", sagt der Regisseur

Im Herbst 2011 las Tanović in der Zeitung einen Artikel über die Mujićs, darüber, dass Senada mit dem Tod rang und die Ärzte sie nicht behandelt wollten, weil sie die Kosten für den Eingriff nicht zahlen konnte. Er schickte einen Mitarbeiter, um herauszufinden, ob die Geschichte stimmte. Dann fuhr er selber hin, fragte die Familie, ob sie bereit wäre, sich selbst zu spielen, um mit der Geschichte auf das Elend der Roma in Bosnien aufmerksam zu machen. Viele haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem, viele leben unterhalb der Armutsgrenze, sagt Human Rights Watch. Die meisten arbeiten als Schrottsammler, kaum eine Familie ist gemeldet.

Nazif Mujić war begeistert von der Idee. Der Film wurde in 27 Tagen gedreht, mit einem Budget von nur 17 000 Euro. Fast das gesamte Team verzichtete auf ein Gehalt, auch Danis Tanović. Mujić und seine Familie erhielten 50 Euro am Tag.

Heute sagt Tanović, der Erfolg des Films habe ihn überrascht. „Ich dachte, wir drehen einen Fernsehfilm, und hoffte, er würde in Bosnien eine Diskussion über das Leben der Roma anstoßen.“ Dass der Film solche Auswirkungen auf das Leben von Nazif Mujić haben würde, hätte er ebenfalls nie gedacht. „Ein wenig fühle ich mich jetzt verantwortlich für ihn.“ Aber er fügt hinzu: „Nazif hatte nach der Berlinale die Möglichkeit, sein Leben zu verbessern. Er hat sie nicht genutzt.“

Im Mai hatte der Bürgermeister der Nachbarstadt Mujić eine Stelle als Müllmann angeboten, befristet für ein Jahr, Monatsgehalt etwa 270 Euro. Er sollte auch regelmäßig bei Empfängen dabei sein und Ehrengäste begrüßen. „Ich war überglücklich, hatte eine Krankenversicherung, ein geregeltes Einkommen,“ erzählt Mujik. Nach vier Monaten musste er die Arbeit niederlegen. „Ich wollte gerade eine Tonne hochhieven, da knackte es in meinem Rücken, ich fiel um und konnte mich nicht mehr bewegen.“ Der Arzt gab ihm Spritzen und verbot ihm, mehr als fünf Kilo Gewicht zu heben. Er wurde krank geschrieben, Geld bekam er keines mehr.

Eine Weile arbeitete Nazif Mujić in der Nachbarstadt als Müllmann

„Er ist dann auch zuckerkrank geworden,“ ergänzt seine Frau. Mujić zeigt die Diabetes-Tabletten, den ärztlichen Befund und eine CD mit Bildern von der Computertomografie des kaputten Rückens. Lauter Beweisstücke für die Leute hier im reichen Deutschland, denen er die Verheißung eines besseren Lebens verdankt. Sie waren so betroffen gewesen von dem Film und dem Mann, den er spielt, von ihm. Aber das spielt keine Rolle mehr.

Später am Abend erzählt er auch noch, dass die Menschen, deren Müll er einsammelte, ihn hänselten. Der große Schauspieler, ein Müllmann, das fanden sie zum Lachen! Nazif Mujić blickt auf den Bären vor ihm und sagt: „Sie haben mich wie einen Tanzbären an der Leine herumgeführt.“ Seine Nachbarn und die Verwandten denken immer noch, er sei reich. Seine Schwiegermutter ist wütend auf ihn, seit sie ihn um Geld gebeten hat und er ihr nichts geben konnte. Natürlich haben sie zusammen mehr als 3000 Euro bekommen für die Arbeit im Film, für die Festivalbesuche, viel Geld war das. Doch es war auch schnell wieder weg. Für das baufällige Haus, die Verwandten, die Kinder, das Krankenhaus, die Tabletten.

Szene aus dem Film „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“.
Szene aus dem Film „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“.
© Trigon-Film

Auf vier Filmfestivals war er eingeladen in Rumänien, Bosnien, Kroatien und Slowenien. Überall sagten Menschen zu ihm, sein Regisseur hätte ihn ausgenutzt, ihm stünde mehr Geld zu. Und jedes Mal, wenn er aus der Glamourwelt in sein baufälliges Haus zurückkehrte, lastete die Enttäuschung über die unerfüllte Verheißung eines besseren Lebens noch schwerer. Und das Gefühl, er sei der trottelige Tanzbär. „In Sarajevo lief unser Film drei Mal täglich, an fünf Tagen, der Eintritt kostete zwischen 15 und 30 bosnischen Mark. Die Aufführungen waren voll, in die Open-Air-Kinos passen bestimmt Hunderte von Menschen. Ich habe für meinen Auftritt bei der Eröffnung aber nur 200 Euro bekommen.“ Nazif Mujić nimmt einen tiefen Zug aus seiner selbstgestopften Zigarette. „Wohin fließt das ganze Geld?“

Regisseur Danis Tanović erklärt, dass „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ bislang kein Geld eingespielt hat. Sobald er selbst etwas bekomme, werde er Nazif Mujić seinen Anteil geben. Tanović sagt auch: „Die Produktionsfirma musste einen Kredit aufnehmen, um die Flugtickets nach Berlin für die Crew bezahlen zu können“ – die Berlinale übernimmt bei allen eingeladenen Filmen die Unterbringung der Gäste, nicht die Reisekosten. Der Kredit wird immer noch zurückbezahlt.

Als Mujić jedenfalls im vergangenen November mitten in der Nacht vom Filmfestival in Slowenien nach Hause kommt, hat er genug gewartet. Weckt seine Frau, legt die 400 Euro auf den Tisch, die er auf dem Festival insgesamt bekommen hat, und sagt: Wir gehen! Zwei Tage später fahren Verwandte die Familie nach Tuzla, in die nächstgrößere Stadt, von der Fernbusse nach Berlin fahren. Im Gepäck haben sie ein paar Kleider und den Silbernen Bären. Die Visitenkarten der Berlinale-Mitarbeiter hat Mujić nicht mehr, aber er ist sicher, sie werden ihn finden. In Berlin holt der Bruder, der ein paar Monate zuvor in Deutschland Asyl beantragt hat, die Familie vom Busbahnhof ab und nimmt sie mit in sein Asylbewerberheim. Es ist Samstag, am Sonntag bleiben die Mujićs dort. Am Montag bringt der Bruder sie aufs Amt, von wo sie schließlich in das Heim am Stadtrand gebracht werden.

„Es ist wie ein Gefängnis. Wir können nicht weg, Bustickets für die ganze Familie sind viel zu teuer“, sagt Senada Alimanović und bläst eine große Kaugummiblase. Wenigstens ist es warm. Sie trägt keine Stümpfe und ein kurzärmeliges T-Shirt, wie ihre Kinder.

Natürlich würde Nazif Mujić in Deutschland gern beim Film arbeiten. Er lächelt ein schiefes Lächeln, das seine Zahnlücken offenbart. Dann wird er ernst. Er würde alles machen, sagt er. „Hauptsache, ich kann meinen Kindern ein besseres Leben bieten.“ Sie erwarten das von ihrem Vater, dem berühmten Schauspieler.

Mitarbeit: Semra A. Saracević

Zur Startseite