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Der Dichter und Erzähler Ocean Vuong.
© CELESTE SLOMAN/The New York Times/Redux/Laif

Roman von Ocean Vuong: Um schön zu sein, musst du gesehen werden

Migrationsroman, queeres Memoir, Totenbuch: Ocean Vuongs Prosadebüt „Auf Erden sind wir kurz grandios“.

Die vorauseilenden Hymnen sind längst ein internationaler Chor. Hierzulande hat sich Saša Stanišić  unter diejenigen gemischt, die das Lob von Ocean Vuongs Prosadebüt singen. Er befindet sich damit in bester Gesellschaft von Kollegen wie Vuongs New Yorker Mentor Ben Lerner, dem jamaikanischen Man-Booker-Preisträger Marlon James, dem Cheyenne-Erzähler Tommy Orange oder dem französischen Schriftsteller Édouard Louis. Dabei hätte bis vor zwei Jahren, als Ocean Vuong für seinen Gedichtband „Night Sky with Exit Wounds“ den hochrangigen englischen T. S. Eliot Prize erhielt, sein Name nur Eingeweihte aufhorchen lassen.

Ocean Vuong, 1988 als Vinh Quoc Vuong in Saigon geboren und 1990 über ein Flüchtlingscamp auf den Philippinen in die USA gelangt, war Spät- und Frühentwickler zugleich. Bis zu seinem elften Lebensjahr konnte er aufgrund einer ererbten Legasthenie nur mühsam lesen. Doch zehn Jahre später studierte er Englisch am Brooklyn College und schaffte es nach einigen kleinen Preisen mit seinem ersten kleinen Gedichtband „Burning“ (2010) auf eine LGBT-Empfehlungsliste der American Library Association.

Seither hat er die Elemente seiner Biografie immer wieder umgegraben: das Aufwachsen mit der vietnamesischen Großmutter und der halbvietnamesischen Mutter, der Tochter eines amerikanischen GI, in Hartford, Connecticut, beider posttraumatisches Erbe, an dem auch er gewaltig trug, und natürlich seine Homosexualität. „Auf Erden sind wir kurz grandios“, das auf seinem Weg über den Atlantik zwischen Amerika und England die Gattungsbezeichnung Roman erst verloren, in Deutschland aber wiedergefunden hat, sammelt diese lebensgeschichtlichen Trümmer in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit ein.

Das unheimliche Aufleuchten einzelner Momente

Vom Atem einer Great American Novel, die ein anderer Enthusiast, der britische Autor Max Porter, in Vuongs Buch erkannt haben will, hat dieses zerklüftete Erinnerungsgelände indes so gut wie nichts. Zum Inbegriff einer Nationalliteratur auf den Spuren von Mark Twain oder William Faulkner taugt „On Earth We’re Briefly Gorgeous“, wie das Original nach einem Gedicht aus „Night Sky“ heißt, allenfalls durch eine zeitgemäße Hybridität: die der kulturellen Zugehörigkeit, der sexuellen Identität und des Schwankens zwischen Poesie und Prosa, Erzählung und Essay mit vielerlei Zitatentreibgut.

Vor allem durch die schlaglichtartige Evokation von Augenblicken ist es das Werk eines Dichters, nicht das eines Epikers. In seinen Erinnerungsbruchstücken, die sich um Chronologie wenig scheren, sucht Vuong weniger den roten Faden, mit dessen Hilfe er die Stationen seiner Herkunft zu einem schlüssigen Ganzen verbindet. Er setzt vielmehr auf das unheimliche Aufleuchten einzelner Momente, die ihre Spannung daraus beziehen, dass sie sich gegenseitig erhellen.

Der Ich-Erzähler schreibt an seine analphabetische Mutter

Dabei überkreuzen sich Migrationsroman, Coming-out-Memoir und Totenbuch für den drogensüchtigen, vom Schmerzmittel Oxycontin abhängigen ersten Liebhaber Trevor und die schizophrene Großmutter Lan. Vuong gibt nicht preis, wo die Grenze zwischen dem tatsächlich Erlebten, das er durch mündliche Auskünfte bekräftigt hat, dem in der Erinnerung farbkräftig Imaginierten und dem Erfundenen verläuft. Der äußeren Form nach handelt es sich um einen Brief des Little Dog genannten Ich-Erzählers an seine analphabetische Mutter Hong oder, auf Englisch, Rose. Er richtet sich also an jemanden, der sich darin nicht wiedererkennen kann. Wo Rose in einen blinden Spiegel blickt, schaut Little Dog hinter die gläserne Wand, die sie von einem befreiten Dasein trennt. Aber auch sein Großvater Paul wird lebendig. 1944 landete er mit den Alliierten in der Normandie, am Omaha Beach, und meldete sich freiwillig zum Vietnamkrieg, in dessen Verlauf er Lan begegnete, die noch in einem Leben als Prostituierte für amerikanische Soldaten gefangen war.

Das Buch teilt sich in drei große fragmentierte Kapitel

Die raue, oft brutale und manchmal allzu polierte Schönheit des Buches erschließt sich nur der geduldigen Lektüre. So sorgfältig hier Satz für Satz erarbeitet ist und sich ständig reflektiert, will es auch gelesen werden. Ocean Vuong selbst hat eine für die asiatische Literatur typische Erzählstruktur namens kishotenketsu als Vorbild genannt. Im Unterschied zur Fünfaktstruktur des klassischen westlichen Dramas oder Dreiaktstruktur des Hollywood-Kinos gehorcht sie einer weitverbreiteten Vieraktstruktur. Aber auch damit ist es nicht weit her.

Das Buch teilt sich in drei große, ihrerseits fragmentierte Kapitel, als deren viertes sich, leicht abgesetzt, allenfalls eine Art Epilog betrachten lässt. Es gehorcht allerdings jener Idee des Plots ohne echten Konflikt, die einen Wesenszug von kishotenketsu bildet. In seiner assoziativen Bauweise verknüpft es flüchtige Motive und bis zum Ende durchgehaltene Leitmotive wie das Leben der wanderwütigen Monarchfalter in einem Strom großer und kleiner Metamorphosen.

Ein Aufflackern von Schönheit

Zum Ende hin schwillt er geradezu visionär an. Vuong sieht „Affen, Elche, Kühe, Hunde, Schmetterlinge, Büffel“ auf einen Abgrund zurasen, der gleichermaßen Untergang wie Auferstehung verheißt. Es ist ein Augenblick jener Schöpfungsgeschichte, in der sich auch das kurze, selbst im Elend grandiose menschliche Leben vollzieht, das der Buchtitel anspricht. Ein Aufflackern von Schönheit, das wie der Sonnenuntergang, wie das Überleben, nur am Rande seines eigenen Verschwindens existiert. „Um schön zu sein, musst du erst gesehen werden – aber wenn du gesehen wirst, wirst du vielleicht auch gejagt.“

Sätze, die overwritten anmuten, zuweilen altklug, sentenzenhaft prätenziös, und dann wieder von einer seltenen Fähigkeit in Schach gehalten werden, körperliche Erfahrung und intellektuelle Brechung auszubalancieren. Die Schläge der Mutter, die mit einem Job im Nagelstudio die Familie durchzubringen versucht, ihre Beschwichtigungs- und Liebesversuche. Später die zusehends heftiger werdenden Zärtlichkeiten, die der 14-jährige Little Dog als Ferienarbeiter auf einer Tabakplantage mit Trevor, dem Enkel des Besitzers, austauscht. Ein Erwachen im eigenen Körper, das einen Prozess der Selbstanerkennung auslöst, der auch seine Einsamkeit zwischen den Kulturen einhegt. Ocean Vuong kann Sex mit einer geschliffenen Härte schildern, die auch den unverblümtesten Szenen jede Peinlichkeit austreibt – außer man findet es seltsam, dass ihm im Moment der höchsten Lust ausgerechnet ein Wort der Philosophin Simone Weil in den Sinn kommt.

Eine Gruppe verzehrt das Gehirn eines lebenden Makaken

„Auf Erden sind wir kurz grandios“ umkreist bei alledem auch das Phänomen Erinnerung selbst. „Ma“, schreibt er, „du hast mir einmal gesagt, dass Erinnerung eine Entscheidung ist. Aber wenn du Gott wärst, wüsstest du, es ist eine Flut.“ Man sieht, wie sie ihn überwältigt haben muss, wenn er im Gedenken an Trevor über Seiten hinweg unvollständige, wie aus dem Notizbuch gefallene Sätze aneinanderreiht. Zwischen dem Versuch, sich das Unwillkürliche von Erinnerung vom Leibe zu halten, und dem Bedürfnis, sie sich einzuverleiben, unternimmt dieses Buch eine Gratwanderung.

Eine besonders eindrucksvolle Szene beschreibt ein an Kannibalismus grenzendes Potenzritual, bei dem eine Gruppe vietnamesischer Männer das Gehirn eines lebenden Makaken verzehrt. Aus der Mitte eines Tischs, unter dem er gefesselt ist, ragt sein mit einem Skalpell geöffneter Schädel heraus. Mit viel Alkohol und Knoblauch löffelt ihn die Runde aus, bis seine Bewegungen erlahmen: „Wenn all seine Erinnerungen sich im Blutstrom der Männer aufgelöst haben, stirbt der Affe.“

Die deutsche Übersetzung hat es schwer, Straffheit und Elastizität von Ocean Vuongs Sätzen einzufangen. Sie klingt schwerfälliger als das Original. Im Großen und Ganzen aber vermittelt sie einen zuverlässigen Eindruck von dieser in ein bestechend reiches Englisch eingravierten Welt, in deren Innerem es doch rumort. Sprachlich, indem sie sich regelmäßig an den Möglichkeiten des Vietnamesischen misst. Und kulturell, indem sie ihre Vorbilder nicht nur bei Roland Barthes oder Joan Didion sucht, sondern ihre Fenster weit nach Osten öffnet.

Das Motto zum Beispiel stammt von Qiu Miaojin, der ersten, aus Taiwan stammenden Chinesin, die ihre Homosexualität literarisch offen feierte. Noch bevor ihr Briefroman „Letzte Worte vom Montmartre“ erscheinen konnte, nahm sie sich 1995 mit 26 Jahren in Paris das Leben. „Lass mich sehen“, zitiert Vuong ihre an eine Geliebte gerichteten Worte, „ob ich dir – mit dieser kleinen Scholle meiner Worte und meinem Leben als Grundstein – einen Mittelpunkt erschaffen kann.“ Im Fall von Ocean Vuong und seiner Mutter ist das auf eigentümliche Weise geglückt.
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Aus dem amerikanischen Englisch von Anne-Kristin Mittag. Hanser Verlag, München 2019. 237 Seiten, 22 €. Lesung beim Internationalen Literaturfestival Berlin: 18.9., 21 Uhr, Silent Green 

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