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Schmerzstiller. Ein allzu sorgloser Umgang mit Schmerzmitteln wie Oxycodin, hat in den USA zur „Opioid-Epidemie“ geführt. Allein in Massachusetts registrierten die Behörden 2016 20 978 Notrufe aufgrund von Medikamentenabhängigkeit oder Überdosis.
© REUTERS/B. Snyder

Opioid-Epidemie: Fluch und Segen von Schmerzmitteln

Viele US-Amerikaner sind süchtig nach bestimmten Schmerzmitteln: Opioiden. Gibt es das Problem auch hierzulande?

„Die Angst verschwindet aus deinem Kopf. Es ist ein warmes Gefühl.“ So beschreibt die amerikanische Foto-Künstlerin Nan Goldin ihre Erfahrungen mit Oxycodon. Der Wirkstoff aus der Gruppe der Opioide ist in Medikamenten enthalten, die deutsche Ärzte nur auf einem Betäubungsmittelrezept verschreiben dürfen. Und nach denen Menschen süchtig werden können.

Stellt den Schmerz ab und die Sucht an

In den USA wird derzeit heftig über eine Drogenepidemie mit teilweise tödlichen Folgen diskutiert, die durch die bedenkenlose Verordnung opioidhaltiger Arzneimittel gegen Schmerzzustände aller Art ausgelöst sein könnte. Goldin hat jetzt im Kunst-Magazin „Artforum“ eine Initiative namens P.A.I.N. zum Kampf gegen eine suchterzeugende ärztliche Verschreibungspraxis angekündigt: „Prescription Addiction Intervention Now“. Was die Künstlerin im Interview mit der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ berichtet, klingt schockierend: Der einmalige Einsatz von Oxycodon vor einer Operation habe bei ihr genügt, um sie gewissermaßen anzufixen. Anschließend habe sie sich das Opioid jahrelang immer wieder von Ärzten verordnen lassen, in Deutschland und in den USA. Gibt es also auch hierzulande eine (versteckte) „Opioid-Epidemie“?

Im Operationssaal sind Oxycodon und Co. jedenfalls unverzichtbar. Das sagt Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anästhesiologie am Campus Benjamin Franklin der Charité: „Im Rahmen der Narkose bei Operationen haben Opioide einen festen Platz als starke Schmerzmittel.“ Ohne sie kann man der starken Schmerzen nicht Herr werden, die entstehen, wenn Gewebe verletzt wird und sich entzündet. Dass bei einzelnen Patienten wie Nan Goldin schon eine einzige solche Opioidgabe den ersten Schritt in eine Abhängigkeit bedeute, sei sehr unwahrscheinlich, sagt der Forscher.

In Deutschland seit 1929 nur auf Rezept zu haben

Hilfreich sind die Medikamente auch, um die starken Schmerzen von Tumor-Patienten zu lindern, etwa mit Morphin. Tatsächlich herrschte in der Krebsmedizin lange Zeit eher eine „Opioid-Phobie“. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich das durch die moderne Palliativmedizin geändert.

Oxycodon entfaltet seine stark schmerzlindernde Wirkung an den Andockstellen für Opioide im Zentralnervensystem. 1919 wurde es erstmals zur Therapie von Schmerzen genutzt. Bereits seit 1929 ist es in Deutschland jedoch nur auf Betäubungsmittelrezept zu haben, zwischen 1990 und 1998 war hierzulande kein Präparat im Handel.

In den USA war Oxycodon hingegen auch in den 90ern ohne Unterbrechung auf dem Markt – und wurde auch intensiv beworben. Die Debatte über Gefahren des Missbrauchs dieses Schmerzmittels (heutiger US-Handelsname: Oxycontin) als Droge läuft dort schon mindestens seit der Jahrtausendwende. Aus gutem Grund: Allein von 1996, dem Jahr der Einführung, bis zum Jahr 2000 hat die Verordnung des Mittels Oxycodon in den USA um das 18-Fache zugenommen. Neu ist die „Opioid-Epidemie“ in den USA also durchaus nicht. Seit 2001 enthält dort der Beipackzettel die deutlichst mögliche Warnung vor den Nebenwirkungen und dem Suchtpotenzial.

Zerstampft taugen die Mittel auch für eine tödliche Überdosis

In Deutschland war und ist man sich der Suchtgefahr des Mittels schon lange bewusst. Im Jahr 2003 berichtete die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) im Deutschen Ärzteblatt über mögliche tödliche Folgen der Injektion von Oxycodon. Und über einen Trick, mit dem Drogen-Abhängige der verlangsamten Wirkung des Arzneimittels ein Schnippchen schlagen: „Die Tabletten werden vom Missbraucher zerrieben, wobei (...) der gesamte Inhalt der Tabletten sofort wirksam wird, sodass eine tödliche Überdosierung resultieren kann.“ Ist bei einem Patienten schon eine Drogenabhängigkeit bekannt, so sollte die Substanz bei ihm oder ihr nach Ansicht der AKdÄ besser überhaupt nicht als Schmerzmittel eingesetzt werden: „Die Sorge um eine optimale Versorgung der Schmerzpatienten in der Bundesrepublik darf die Sorge um das Leben von Drogenabhängigen nicht verdrängen.“

Von einer Opioid-Epidemie wie in den USA kann hierzulande allerdings keine Rede sein. Im aktuellen Jahrbuch „Sucht“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) wird zwar vier bis fünf Prozent aller Medikamente ein Suchtpotenzial attestiert. Rund 1,5 Millionen Menschen sind Schätzungen zufolge abhängig von einem Medikament, das auf die Psyche wirkt, weitere 1,7 Millionen gelten als gefährdet. In den allermeisten Fällen handelt es sich aber um eine Abhängigkeit von Mitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine, die zur Beruhigung und gegen unspezifische Anzeichen von Angst und Stress verordnet werden. Die Suchtexperten sprechen hier von der „stillen Sucht“, betroffen sind besonders Frauen über 60 Jahre. Bedenklich sei, so die DHS, dass derzeit 70 Prozent aller Schmerzmittel ohne Rezept in der Apotheke gekauft werden. Zur Abhängigkeit von Opioiden und zu möglichen Todesfällen im Gefolge ärztlicher Verordnungen liegen aber keine Zahlen vor, wie die DHS auf Nachfrage betont.

Auch in Deutschland ist der Verbrauch gestiegen

Die Daten verschiedener gesetzlicher Krankenkassen zeigen jedoch, dass opioidhaltige Schmerzmittel in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland verstärkt eingesetzt wurden, etwa bei chronischen Beschwerden wie dem Schmerzsyndrom Fibromyalgie, bei Reizdarm oder Kopfschmerzen. Die medizinischen Fachgesellschaften äußern sich zu diesem Anstieg in einer 2015 aktualisierten Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden auch ausgesprochen kritisch, ausdrücklich wegen des hohen Abhängigkeitspotenzials dieser Substanzen. Allerdings schreiben die Fachgesellschaften den Ärzten auch strikte Maßnahmen vor, um Missbrauch zu verhindern. So müsse, wenn überhaupt bei chronischen Schmerzen Opioide verordnet werden, die Therapie engmaschig überwacht werden. Es müsse Einnahmepausen, Auslassversuche und nötigenfalls auch eine Entzugsbehandlung geben. Und bei schädlichem Gebrauch oder Weitergabe von Medikamenten an unberechtigte Personen und/oder schwerwiegendem Zweifel an verantwortungsvollem Gebrauch opioidhaltiger Schmerzmittel solle keine Therapie begonnen werden.

Gänzlich verhindern lässt sich der Missbrauch aber trotzdem nicht. Das suchtauslösende Potenzial gehört zu den Opioiden. Suchtforscher Stein will daher neue Opioide entwickeln, die zwar nach wie vor Schmerzen lindern, aber Menschen nicht mehr süchtig machen. Und die auch außer Stande sind, die anderen gefürchteten Nebenwirkungen der Opioide hervorzurufen – etwa Benommenheit, Übelkeit, starke Verstopfung und Atemstillstand. Sie suchen nach Opioiden, die nur auf krankes, entzündetes Gewebe einwirken, nicht aber auf gesundes. Die Mediziner haben dafür in Zusammenarbeit mit Mathematikern des Berliner Zuse-Instituts Prototypen von Opioid-Molekülen mit einer veränderten Struktur entwickelt. Diese Stoffe finden nur in entzündetem Gewebe mit saurem Milieu passende Andockstellen und lassen gesundes Gewebe deshalb unberührt. Ein Prototyp bewährte sich bereits im Tiermodell, die Bewährungsprobe beim Menschen steht noch bevor. Falls sie funktionieren, könnten suchterzeugende Opiate und Opioide eines Tages aus der Medizin verschwinden. Und damit auch Geschichten wie die von Nan Goldin.

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