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Schreiben, um zu verstehen. Joan Didion 2005, als ihr Buch "Das Jahr des magischen Denkens" erschien.
© imago/ZUMA Press

Neue Bücher von Joan Didion: Die Geister Kaliforniens

Die große Essayistin Joan Didion hat Heimweh nach dem Golden State und schreibt über Kalifornien. Auch neu auf Deutsch erschienen ist ein Interviewband.

Sie war fast 70 Jahre alt, als sie 2003 mit „Woher ich kam“ („Where I Was From“) zu ihrem Lebensthema Kalifornien zurückkehrte. Joan Didion, die Grande Dame des „New Journalism“, Drehbuch- und Romanautorin und neben der verstorbenen Susan Sontag wohl einflussreichste Essayistin der USA, knüpft in dieser erst jetzt auf Deutsch erscheinenden Essay-Sammlung an ihr „White Album“ von 1979 an. Dessen deutscher Untertitel „Eine kalifornische Geisterbeschwörung“ könnte durchaus als Beschreibung ihres Verfahrens gelten. Denn auch hier geht Didion (Ursprungs-)Mythen des Golden State nach, verbindet sie mit der Geschichte der Eisenbahn- und Ölkonzerne, derjenigen der Rüstungs- und Gefängnisindustrie, der Luft- und Raumfahrt sowie den Problemen der Einwanderung, des Rassismus und des Abstiegs der weißen Mittelschicht.

Die aus Europa stammenden Pilger des Frontier Movement, angetrieben von der Idee des Neuanfangs, meinten einst, ihr altes Leben hinter sich lassen und auf der pazifischen Seite des Kontinents, in der Wildnis Kaliforniens „wiedergeboren“ werden zu können. Tatsächlich setzt die Bildsprache der zeitgenössischen Literatur das Motiv der Katharsis nach der beschwerlichen Odyssee immer wieder in Szene und hat damit, so Didion, den Glauben an so etwas wie eine „kalifornische Gemeinschaft“ bewirkt.

In Wirklichkeit verdankte sich das goldene Zeitalter des Golden State staatlichen Subventionen von groteskem Ausmaß, der Korruption, dem Ausverkauf Kaliforniens an die höchsten Bieter bei zunehmender Verflechtung der Industrie- und Finanzwelt mit der nationalen Politik und der radikalen Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und rassistischen Gesetzen. Native Americans, Schwarze, Asiaten und Mexikaner blieben für Generationen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen.

Ähnlich wie in „Süden und Westen“, Didions letztes Jahr gleichfalls in der leichtgängigen Übersetzung von Antje Rávik Strubel auf Deutsch erschienenen Südstaaten-Notizen, unternimmt auch „Woher ich kam“ den Versuch einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Schlaglichtern. Er ist eng verwoben mit Didions eigener Familiengeschichte, einem „Theater der Generationen“, das zurückreicht bis zu einer 1766 in den Beginn der Amerikanischen Revolution hineingeborenen „Urururururgroßmutter“, deren Enkelin sich wiederum in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Pilgern Richtung Westen aufmachte.

In Sacramento geboren, blieb Kalifornien ihr immer ein "aufreibendes Mysterium"

Von deren Pioniergeist über die Goldgräberstimmung der Settlement-Bewegung bis zu den Missständen der Agrarwirtschaft der 1990er Jahre spannt Didion einen weiten, gelegentlich allzu weiten Bogen. Dabei ist nach einem halben Jahrhundert als Reporterin für „Vogue“, „Life“, „Esquire“ oder den „New Yorker“ kaum jemand besser geeignet, ein Buch über Kalifornien zu schreiben als sie.

Schon als Schülerin machte sie sich daran, „Kaliforniens ‚Kern‘ zu suchen, eine Botschaft in seiner Geschichte ausfindig zu machen“, die dem eigenen Leben als Anker dient. Denn obwohl sie in Sacramento geboren wurde und mehr als ein halbes Jahrhundert in Kalifornien lebte, bevor sie Ende der 1980er nach New York übersiedelte, ist Didion ihr Heimatstaat „auf gewisse Weise unzugänglich geblieben, ein aufreibendes Mysterium“.

Doch Didion wäre nicht Didion, wenn diese facettenreiche und komplexe Geschichte Kaliforniens nicht gerade dadurch immer wieder zum Leben erweckt würde, indem sie ihre persönlichen „Irrtümer und Missverständnisse“ ins Zentrum rückt. Es ist ein Buch der „Erkundung eigenen Verwirrtseins in Bezug auf diesen Ort und die Art und Weise, in der ich aufwuchs“. Dadurch bleibt es notwendig auch ein Buch voller Widersprüche und Diskontinuitäten, das seinen Lesern und Leserinnen einiges abverlangt. Bei dem Unternehmen, mit den kalifornischen Mythen aufzuräumen, wird viel gehobelt, und es fallen noch mehr Späne, bis man erahnt, warum man seitenweise über kalifornische Bewässerungsprobleme, Pumpkraftwerke, KurzwellenWasserstandssender oder Staudämme von Lake Almanor bis Lake Spaulding unterrichtet werden muss.

Der Band "Dinge zurechtrücken" versammelt Gespräche aus 40 Jahren

Didion erfüllt sich hier nämlich einen lange gehegten Wunsch. „Ich habe immer schon über die Wasserversorgung in Kalifornien schreiben wollen“, gesteht sie in einem Interview, das sich in dem hervorragend ausgewählten Band „Dinge zurechtrücken“ findet. Er versammelt Gespräche aus 40 Jahren. Man kann ihn als Kommentar zu „Woher ich kam“ lesen, fokussiert doch ein Großteil der Interviews auf dieselben Themen.

Hier wie dort spart Didion nicht mit Selbstzweifeln oder Selbstkritik. Das Ich ist in allen Texten als beobachtende und beschreibende Instanz präsent, die ihre Wahrnehmung sofort analysiert und hinterfragt. Man schaut Joan Didion gewissermaßen beim Denken zu. „Für mich“, sagt sie in einem anderen Interview, „bedeutet Schreiben immer, zu einem Verstehen zu gelangen, das ich auf anderem Weg nicht erreichen kann.“ Doch irgendwo in ihren umfangreichen Recherchen zu diesem wahrlich breiten Panorama, irgendwo zwischen endlosen Aufzählungen, weniger analytischen Deskriptionen und in aller Breite ausgewalzten Statistiken zur kalifornischen Demografie gerät diese Reportage zwischendurch so aus den Fugen, dass nicht nur der rote Faden verloren geht, sondern auch der typische Didion-Sound.

Joan Didions Heimweh scheint mit den Jahren immer stärker geworden zu sein

Zu Recht gefeiert für ihre klaren Sätze, zu denen sie Henry James und Joseph Conrad inspiriert haben mögen, lässt die für sie typische Kompilation von Beobachtungen und Anekdoten eine vergleichbare Präzision über weite Strecken vermissen. Wer nach dem großen Erfolg von „Das Jahr magischen Denkens“ und „Blaue Nächte“, zwei brillanten autobiografischen Büchern über die Trauer nach dem Tod ihres Mannes John Gregory Dunne und ihrer Tochter Quintana, von „Woher ich kam“ ähnlich Substanzielles erwartet, wird enttäuscht sein.

Das Buch endet dort, wo es erst richtig beginnen könnte: der Liebe zur Heimat bei gleichzeitiger Entfremdung von ihr. Daraus erwächst bei Didion ein Heimweh, das mit den Jahren immer stärker geworden zu sein scheint.

- Joan Didion: Woher ich kam. Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel. Ullstein, Berlin 2019. 272 Seiten, 20 €.

- Joan Didion: Dinge zurechtrücken. Gespräche aus vierzig Jahren. Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich. Zusammengestellt von Ann Kathrin Doerig. Kampa, Zürich 2018. 216 Seiten, 20 €.

- Auf Netflix ist zur Zeit eine Dokumentation über Joan Didion zu sehen.

Bastian Reinert

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