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Eine Szene aus Joshua Weinsteins Film "Menashe".
© Federica Valabrega

Berlinale 2017: Überblick über das Forum

Die Landschaft als Hauptdarsteller, Filme aus Lateinamerika und ein etwas anderes Casting mit Bühnenstars: Das Forum in der Vorschau.

Inseln, Flussregionen, majestätische Gebirge, eine Wüste mit Grenzzaun: Dass sich unter den 43 Beiträgen des Forum-Hauptprogramms viele Filme finden, in denen die Landschaft der heimliche Hauptdarsteller ist, lässt sich als Reflex auf die chaotische Gegenwart lesen. Erkenntnis nur im Rückzug möglich? Nicht wenige dieser Filme sind hochpolitisch, erkunden sie doch die Umweltverschmutzung ("Lady of the Lake"), indigene Lebensarten ("Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas"), den Kampf eines brasilianischen Bauern gegen Agrarkonzerne ("Rifle"), die Endzeit der Industrialisierung ("City of the Sun" aus Georgien) oder eben die Region um die Grenze zu Mexiko, die Sonora-Wüste ("El mar la mar"). Bei Ann Carolin Rennigers und René Frölkes deutscher Dokumentation verspricht schon der Titel Entschleunigung: "Aus einem Jahr der Nichtereignisse" – ein Bauer, fast 90, allein auf seinem Hof.

Besonders viele Beiträge stammen aus Lateinamerika, darunter die argentinische Familienstudie "Adiós Entusiasmo" und "Casa Roshell" über ein Haus in Mexiko City, in dem Männer tagsüber das Frausein lernen, um nachts Partys zu feiern. Trans, schwul, hetero oder bi, Spielfilm oder Doku, die Grenzen verschwimmen. Auch amerikanische Independents sind wieder dabei, etwa "Golden Exits" von Axel Ross Perry: Eine junge Australierin kommt nach New York und sorgt im Leben zweier Paare in Brooklyn für Unruhe – und für die Erkenntnis lange verdrängten Unglücks. Ein Publikumsliebling dürfte "Menashe" werden. Ebenfalls in Brooklyn angesiedelt und fast komplett auf Jiddisch gedreht, folgt Joshua Weinsteins Film einem tolpatschigen Witwer, gespielt vom chassidischen Comedian Menashe Lustig, der sich auf seine ungelenke Weise gegen das Regelwerk seiner orthodoxen Gemeinde auflehnt. Er möchte, dass sein kleiner Sohn wieder bei ihm leben darf, ohne dass er gleich wieder heiratet. Allein, er kann nicht mal einen anständigen Kugl-Auflauf backen.

Eine kleine Hommage ist dem Dokumentaristen und Filmessayisten Heinz Emigholz gewidmet, der die vier – lose verknüpften – Teile seiner Serie "Streetscapes" zeigt. Zu den wieder zahlreich vertretenen Dokus zählen auch der 280-Minüter "Qiu (Inmates)", eine Langzeitstudie aus einer chinesischen Psychiatrie, und der bewegende Cinema-Verité-Film "Motherland" über eine Geburtsklinik in Manila. 150 Mütter mit ihren teils frühgeborenen Babys in einem Saal: Hier gebären die Ärmsten der Armen, elendes, zerbrechliches, kostbares Leben. Keine Stars im traditionellen, vor allem die Bildästhetik und das Experiment würdigenden, Programm? Bitte sehr: In gleich zwei Filmen ist die Französin Lolitah Chammah dabei, in "Droles d’oiseaux" und "Barrage" – in letzterem spielt sie mit ihrer Mutter, Isabelle Huppert. Regisseur Nicolas Wackerbarth versammelt in "Casting" gleich eine ganze Riege von Berliner Bühnenstars: eine Art Impro-Theater mit Corinna Kirchhoff, Judith Engel, Ursina Lardi, Andrea Sawatzki ...

Das Forum Special verspricht eine (Wieder-)Entdeckung und präsentiert eine Retro zum marokkanischen Arthouse-Pionier Ahmed Bouanani (1938 – 2011). Vorkämpfer des Autorenkinos in seinem Land, konnte er selbst nur einen Film realisieren, "Al-Sarab", angesiedelt in der Kolonialzeit: Ein Bauer findet ein Geldbündel in einem Mehlsack... Die Retro versammelt Dokus, Archivfunde, Werke von Wegbegleitern, Kurzfilme. Und Dominik Graf setzt seine Verteidigung des mutigen, schmutzigen deutschen Genrefilms fort, gemeinsam mit Johannes S.Sievert, in Offene Wunde deutscher Film.

44 Programme zeigt das Forum Expanded: 28 Filme, 15 Installationen, eine Performance. Schwerpunktthema der Ausstellung in der Akademie der Künste am Hanseatenweg (Eröffnung 8. 2.) ist die Rolle des Irrationalen in der Massenkultur, Amos Gitais Ausstellung "The Law of the Pursuer" ist bei Savvy Contemporay zu sehen. Die Berliner Pong-Filmer sind mit "Izadora" vertreten, die Multimedia-Installation "Bawabet Yaba" blickt aufs Jaffator in Jerusalem, "Off Frame" versammelt Archivfunde zur Palestine Film Unit. Regisseur Mohanad Yaqubi nimmt auch an der Tagungsreihe Think Film teil, die der Archivarbeit generell gewidmet ist, am 16.2. im Silent Green im Wedding.

Später Höhepunkt für Forum-Fans: Am Publikumstag, dem 19. 2., präsentiert die Leserjury des Tagesspiegels um 19.30 Uhr ihren Siegerfilm, in Anwesenheit auch des Forum-Chefs Christoph Terhechte. Die neun Jurorinnen und Juroren haben dafür dann 35 Filme gesichtet! Tickets für die Vorstellung sind ab 6.2. erhältlich: schönes Blind Date für Cineasten.

Christiane Peitz

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