Das 67. Filmfestival Locarno: Die Sittenmaler
Tauben tragen, Wurzeln sammeln - und die Kunst der Narration: Das 67. Filmfest Locarno bot eine brillante Retrospektive und Filme von heute, die auf ihre Weise Geschichten erzählen.
Geht es um das Filmfest Locarno, ist stets die Rede vom ultimativen Freiluftgefühl. Von der Piazza Grande mit ihrer Riesenleinwand, vor der sich allabendlich Festivalprofis, Birkenstocktouristen und ältere Tessinerinnen versammeln, die einander den Mückenschutz unter ihre selbst gehäkelten Stolen reiben. Glücklich kann sich schätzen, wer einen Platz neben ihnen ergattert, großzügig verteilen die Damen ihren in Picknickkörbchen mitgebrachten Proviant und spendieren auch gerne ein Gläschen Spumante. Salute!
Zum Gemeinschaftserlebnis des Festivals, das am Sonnabend mit der Verleihung der Leoparden zu Ende ging, gehören natürlich die Filme, die zur emotionalen Achterbahnfahrt einladen. Tatsächlich verließ man das Kino dieses Jahr in Locarno nicht selten mit weichen Knien, aufgewühlt und ordentlich durchgeschüttelt wie nach einem Dreifachloop.
Großartig: "Titanus"-Retrospektive
So schaute man mit dem jungen Jean-Louis Trintignant in Valerio Zurlinis Melodram „Gewaltiger Sommer“ (1959) zerrissenen Herzens seiner großen Liebe nach, die er ziehen lassen muss, weil die Zeitläufe Ende des Zweiten Weltkrieges solche Gefühle nicht dulden. Szenenapplaus gab es für Giulietta Masina und ihre herrlich schrägen Tanzeinlagen in Lina Wertmüllers schrill-buntem Musical „Non stuzzicate le zanzara“ (1967). Mit weißen lebendigen Tauben als Kopfbedeckung, die ein beharrliches Eigenleben führen, tanzt die italienische Schauspielerin lustvoll aus der Reihe, inspiriert vom Revolutionsgeist jener Jahre. Nach der Vorführung von Vittorio de Sicas aufwühlendem Roadmovie „Zwei Frauen“ (1961), der Sophia Loren und ihre Filmtochter auf ihrer Reise durch ein vom Krieg verrohtes und verarmtes Italien begleitet, fragte ein Kollege sichtlich ergriffen: „Wo ist nur diese Erzählkunst geblieben?“
Es waren die Filme der „Titanus“-Retrospektive, die auf schönste und selbstverständlichste Weise vor Augen führten, dass Kunst und Kommerz sich nicht ausschließen, Zeitgeschichte sich auch in populären Formen erzählen lässt und selbst extreme Autorenvisionen ein großes Publikum berühren können. „Titanus“, das ist eines der ältesten, immer noch existierenden Produktionshäuser der Welt. Der römische Familienbetrieb wurde 1904 von Gustavo Lombardo gegründet, ein offenes Haus für das Kino in all seinen Facetten. In den fünfziger und sechziger Jahren prägte Titanus die italienische Filmgeschichte entscheidend mit: Antonioni, Fellini und Visconti gaben sich die Klinke in die Hand; Genre-Spezialisten wie Mario Bava, Dario Argento und Sergio Corbucci drehten ihre abgefahrenen Horror – und Thrillerexperimente für die Lombardos.
Bestandsaufnahme des aktuellen Kinogeschehens
Mit der Titanus-Retrospektive hat sich das Festival selbst das schönste Geschenk bereitet und nebenbei eine Geistesverwandtschaft entdeckt. Schließlich versammelt das Tessiner Festival genau wie das Studio alle erdenklichen filmischen Formen und Bildsprachen unter einem Dach. Womit sich wieder die Frage nach der Kunst des Erzählens stellt. Die gute Nachricht: Man muss bei diesen 67. Filmfestspielen von Locarno nicht in Melancholie verfallen oder nostalgisch zurückblicken. Das sorgfältig und risikofreudig kuratierte Programm bot eine Art Bestandsaufnahme des aktuellen Kinogeschehens, und ja, es gibt sie noch, die Kunst, gute Filme zu drehen. Nur begreifen sich ihre Regisseure nicht mehr als Erzähler im klassischen Sinne.
Eher sind sie Beobachter, arbeiten seismografisch mit der Kamera, verharren in einer Einstellung, spüren Stimmungen auf. Ihre Methoden mögen anders sein, doch ihre Filme haben einen ähnlichen Effekt wie die Titanus-Nachkriegsklassiker: Sie versammeln Zeit- und Sittenbilder von Ländern im Umbruch, von Gesellschaften in politisch angespannten, angeschlagenen Zeiten.
Der Gewinnerfilm des philippinischen Regisseurs Lav Diaz lädt zur fast sechsstündigen, in kontrastreichem Schwarz-Weiß gedrehten Expedition in die jüngste Geschichte seines Heimatlandes. „From what is before“ beginnt mit einer minutenlangen Einstellung auf einen Dschungel. Wind rauscht durch die Palmblätter, exotisches Vogelgezwitscher, aus der Ferne vernimmt man das Rascheln von Tieren. Nach einer Zeit gewahrt man Schritte, eine alte Frau tritt aus dem Gebüsch. Sie hat Wurzeln gesammelt.
Lav Diaz, Pedro Costa, Alex Ross Perry: Sie alle beobachten, registrieren seismografisch.
Nichts ist passiert und doch alles geschehen, man ist im Bilde, in einem anderen Alltags- und Lebensrhythmus. Die Greisin macht sich auf den mühseligen Weg durch eine verschlammte Hügellandschaft in ihr kleines Dorf, in dem die Häuser auf Stelzen stehen, damit sie während der Regenzeit nicht im Sumpf versinken. Die Sequenz lässt einen das individuelle Zeiterleben eines anderen Menschen nachempfinden. Der Zuschauer folgt weiteren Dorfbewohnern, streift mit dem Wildhüter durch die unwirtliche Landschaft, hört die traurige Geschichte seines ausgesetzten Ziehsohnes, sieht, wie eine junge Frau aufopferungsvoll ihre behinderte Schwester pflegt, wohnt schamanischen Ritualen bei. Und dann ist da noch die aufdringliche Händlerin, die ihre Moskitonetze loswerden will, dabei böse Gerüchte verbreitetet und sich als Polizeispionin entpuppt. Lav Diaz’ Film beginnt 1970 und endet 1972 mit der Verhängung des Kriegsrechts durch General Marcos.
Unaufhaltsam verbindet sich die subjektive Zeit des Films mit der kollektiven, nehmen die bedrohlichen Zeichen zu. Wer hat die Rinder erschlagen? Wer ist der blutüberströmte Tote auf der Straßenkreuzung? Wer setzt die Häuser in Brand? Lav Diaz’ konzentrierte Bilder nehmen das Unheil vorweg, registrieren die Gewalt, die allmählich die kleine Dorfgemeinschaft zersetzt. Man wird Zeuge der Verhärtung und Verrohung eines Landes.
Pedro Costa wird mit "Horse Money" für die beste Regie ausgezeichnet
Auch der Portugiese Pedro Costa ist ein beobachtender Erzähler. Oder ein erzählender Beobachter? Schauplatz seines neuen Films ist wieder das an der Lissaboner Stadtgrenze gelegene, von kapverdischen Einwanderern bevölkerte Viertel Fontainhas. „Horse Money“ (Preis für die beste Regie) ist ein fast abstraktes, sorgfältig ausgeleuchtetes Sittengemälde, das bei aller Schönheit das Leiden der Bewohner nicht übersieht. Phantomen gleich, treten sie mit ihren gezeichneten Gesichtern aus ihrer tristen Umgebung hervor.
Dem Film geht es nicht um das Verstehen konkreter historischer Zusammenhänge, vielmehr erspürt man mit dem intensiven Blick der Kamera den Schmerz derer, die unter den portugiesischen Kolonialherren nicht frei leben konnten. In einer der eindrücklichsten Szenen kommen Costas angeschlagene Heldinnen und Helden aus ihren Baracken hervor und singen ein kreolisches Lied. Ein utopischer Moment, in dem jener Ort aufscheint, der ihnen verwehrt ist.
Dass man auch aus reinen Dialogen die Erzählung eines Ortes erschaffen kann, beweist Alex Ross Perry mit seinem hintersinnigen Konversationsstück „Listen Up Philip“ (Jury-Spezialpreis). Jason Schwartzman gibt einen wunderbar misanthropischen Schriftsteller, der für seine Stadt New York nur noch zynische Worttiraden übrig hat. Vielleicht war es einfach an der Zeit, dass das Kino einen der am meisten abgefilmten Orte der Welt in einem anderen, womöglich wahrhaftigerem Licht zeigt. Es gibt sie wirklich noch, die großen Kinoerzähler. Nur dass die Kraft ihrer Bilder sich aus anderen Quellen speist als denen der herkömmlichen Narration.
Anke Leweke
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