Anklage gegen Osman Kavala: EU übt scharfe Kritik an türkischer Justiz
Die Gerichte seien ein "totaler Witz" und zum reinen Werkzeug der Regierung verkommen, beklagen Vertreter der EU und des Europarats.
Das Vorgehen der türkischen Justiz gegen mutmaßliche Regierungsgegner facht die Spannungen zwischen Europa und der Türkei an. Als „totalen Wahnsinn“ kritisierte die Türkei-Berichterstatterin im EU-Parlament, Kati Piri, die Anklage gegen Osman Kavala, einen prominenten Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft. Der Europarat äußerte sich ebenfalls besorgt über den Umgang der Türkei mit Kavala, dem eine lebenslange Haftstrafe wegen eines angeblichen Umsturzversuches droht. Neuer Streit droht auch auf der geteilten Mittelmeerinsel Zypern. Das EU-Parlament stimmt in den kommenden Wochen über die Forderung ab, die Beitrittsgespräche mit der Türkei auszusetzen.
Der 62-jährige Kavala war als Gründer einer Kulturstiftung in den vergangenen Jahren ein enger Partner vieler europäischer Institutionen in der Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft Kavala jedoch vor, die Gezi-Unruhen vor fast sechs Jahren angezettelt zu haben, um seine Regierung zu stürzen.
Mit der Fertigstellung der Anklageschrift gegen Kavala, der seit mehr als 15 Monaten in Untersuchungshaft sitzt, wollten die türkischen Behörden offenbar einer Niederlage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zuvorkommen. Die Anklage wurde einen Tag vor Ablauf einer letzten Frist vorgelegt, die das Gericht der Türkei im Fall Kavala gesetzt hatte. Zusammen mit Kavala sind weitere 15 Personen angeklagt, für die alle lebenslange Haft gefordert wird.
Das Instrument der Untersuchungshaft diene Erdogan dazu, Kritiker zum Schweigen zu bringen
Seit Jahren beklagen Vertreter des Europarats und der EU, dass die türkische Justiz immer mehr zum Werkzeug der Regierung gemacht wird. Die Menschrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, kritisierte die Anklage gegen Kavala als Zeichen dafür, wie sehr sich die türkische Justiz von europäischen Standards entfernt habe.
Auch Türkei-Berichterstatterin Piri kommentierte, die Justiz in der Türkei sei „zu einem totalen Witz geworden“. Unter anderem werde das Instrument der Untersuchungshaft eingesetzt, um die legitime Kritik von Journalisten, Menschenrechtlern und Oppositionellen zu unterbinden, schrieb Piri auf Twitter.
Der Auswärtige Ausschuss des EU-Parlaments beschloss unterdessen eine Forderung nach Aussetzung der seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Das türkische Außenamt nannte die Initiative des Ausschusses „inakzeptabel“, doch Piri betonte, sie erwarte im März eine Mehrheit im Plenum für die Entschließung.
Der türkische Außenminister Cavusoglu soll im März nach Brüssel kommen
Ein Parlamentsvotum für die Suspendierung der Türkei-Gespräche hätte wahrscheinlich keine konkreten Folgen für Ankara. Derzeit lassen die EU-Kommission und der Rat der Mitgliedsländer keine Neigung erkennen, die Gespräche mit der Türkei trotz des Demokratie-Abbaus in Ankara offiziell auf Eis zu legen. Mitte März wird laut Piri der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu zu seinen ersten Gesprächen mit der EU in diesem Jahr in Brüssel erwartet.
Bis dahin könnte es weiteren Ärger geben. Cavusoglu warf der EU am Donnerstag vor, die Türkei „vor der Tür“ stehen lassen zu wollen, um das Land besser kontrollieren zu können. Er forderte die EU laut der Nachrichtenagentur Anadolu erneut auf, türkischen Staatsbürgern visafreie Reisen nach Europa zu erlauben. Brüssel lehnt das mit Verweis auf die drakonischen Anti-Terror-Gesetze der Türkei ab.
Wegen Erdgasvorräten droht Streit zwischen der Türkei und Zypern
Cavusoglu kündigte zudem an, sein Land werde in den kommenden Tagen im Mittelmeer um Zypern nach Erdgasvorräten suchen lassen. Das könnte die Spannungen um die geteilte Insel erneut eskalieren lassen. Die Türkei kritisiert seit langem die Bemühungen der zur EU gehörenden griechischen Inselrepublik, die Erdgasvorräte um die Insel zu erforschen und auszubeuten. Ankara sieht dadurch die Interessen des türkischen Inselteils gefährdet.
„Ohne die Türkei kann im Mittelmeer nichts geschehen“, sagte Cavusoglu. Die Gasvorräte um Zypern seien für die Türkei von „strategischer“ Bedeutung und eine „nationale Angelegenheit“.
Susanne Güsten