Die Coronakrise und der US-Präsident: „Trump braucht dringend Nachhilfe“
Harvard-Professor Joseph Nye bewertet die Außenpolitik der US-Präsidenten. Ein Gespräch über den moralischen Kompass und Corona.
Joseph Nye ist Professor emeritus an der Harvard Kennedy School. Er gilt als einer der größten außenpolitischen Denker der USA. Bekannt wurde er vor allem, weil er den Begriff der „Soft Power“ prägte und die These, dass Staaten neben militärischer, „harter“ Macht auch „weiche“, moralische Macht ausüben können, vor allem, indem sie moralische Vorbilder sind.
Sein neues Buch - „Do Morals Matter“ – ist im Januar bei Oxford University Press erschienen. Es bewertet die moralische Haltung und Außenpolitik von US-Präsidenten. Das Interview führte Anna Sauerbrey am Dienstag am Telefon. Joseph Nye war zu diesem Zeitpunkt in seinem Sommerhaus in New Hampshire (wo es schneite).
Er war gerade aus Kalifornien zurückgekehrt. „Wir sind gerade noch rechtzeitig rausgekommen“, erzählt er. Wegen der Corona-Epidemie wurden in sieben Gemeinden in Kalifornien Ausgangssperren verhängt.
Mister Nye, in Ihrem neuen Buch haben Sie eine Art „ethisches Punktesystem“ entwickelt und bewerten danach die Außenpolitik aller amerikanischen Präsidenten ab Franklin D. Roosevelt (1933-1945). Was sind Ihre Kriterien?
Ich bewerte erstens die Motive und Absichten, zweitens die Mittel, die in der Außenpolitik des jeweiligen Präsidenten zum Einsatz gekommen sind, und drittens die Konsequenzen.
Am Ende jedes Kapitels fassen Sie noch einmal in Form einer Art Zeugniskarte zusammen, ob der jeweilige Präsident „gut“, „durchwachsen“ oder „schlecht“ abgeschnitten hat. Ist das nicht ein bisschen arg holzschnittartig?
Natürlich gibt es keine einfache mathematische Formel für das ethische Verhalten eines Präsidenten. In Amerika hört man aber in der öffentlichen Debatte oft Argumente, die noch viel einfacher sind.
Zum Beispiel: „Wir sind die Guten – also ist es gut, was wir tun.“ Mit meinem Modell möchte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man verschiedene Dimensionen gegeneinander abwägen muss, um zu moralischen Urteilen zu kommen.
Wer macht sich denn anhand Ihrer drei Kategorien besonders gut unter den 14 – und wer eher schlecht?
Die Präsidenten, die in meinem Ranking im obersten Viertel landen, sind Roosevelt, Truman und Eisenhower. Sie haben die Machtposition, die die USA nach dem Ersten Weltkrieg erlangt haben, sehr breit interpretiert und wollten diese Macht nicht nur zum Wohl des eigenen Landes, sondern auch zum Wohl anderer Länder einsetzen. Ich beziehe auch den älteren Bush in diese oberste Kategorie mit ein.
Er versuchte mit dem Ende des Kalten Krieges eine Weltordnung zu etablieren, die mit den Werten der Verantwortung für andere im Einklang stand. Im untersten Viertel landet unter anderem Johnson – weil er den Vietnamkrieg eskalierte, Nixon, aus ähnlichen Gründen und weil er das Vertrauen in die Politik zerstört hat, und der jüngere Bush, vor allem wegen des Einmarschs im Irak.
Und Donald Trump?
Was Trump anbetrifft, ist es noch zu früh, eine abschließende Bewertung abzugeben, aber wenn man einmal das Vokabular eines Lehrers anwendet, würde ich sagen, die Leistungen dieses Schülers sind bislang unzulänglich und er braucht dringend Nachhilfe.
Wichtig ist Ihnen, ob ein Präsident außenpolitische „Kontextintelligenz“ besitzt. Was meinen Sie damit?
Kontextintelligenz und auch emotionale Intelligenz sind aus meiner Sicht wichtige Eigenschaften, die eine Führungspersönlichkeit haben sollte – und sie sind wichtig, um moralische Urteile zu treffen.
Jeder, der eine Entscheidung moralisch abwägt, sollte seine Absichten gegen die nötigen Mittel und mögliche Konsequenzen halten. Um zu einem guten Urteil zu kommen, muss man möglichst viele Informationen haben, auch um nicht beabsichtigte Folgen abschätzen zu können. Diese Fähigkeit meine ich mit dem Begriff „Kontextintelligenz“.
Welche Präsidenten verfügen denn über diese Form der Intelligenz?
Der erste Bush zum Beispiel. Er war gebildet, besonders in den internationalen Beziehungen. Sein Sohn hingegen kannte sich vor allem mit der heimischen Politik aus, ihm fehlte der Sinn für die Komplexität der internationalen Beziehungen.
Er war daher weniger gut in der Lage, nicht beabsichtigte Folgen abzusehen. Sein Vater, der ältere Bush, entschied 1991, nicht zu versuchen, Bagdad einzunehmen – weil er die Gefahr sah, dass er die Unterstützung Verbündeter verlieren könnte. Der jüngere Bush hingegen behauptete, der Einmarsch nach Bagdad werde ein „cakewalk“, ein Kinderspiel. Das ist ein gutes Beispiel für die Abwesenheit von „Kontextintelligenz“.
Sie zeigen in Ihrem Buch, dass die Art und Weise, wie Präsidenten Außenpolitik machen nicht nur von ihrem moralischen Kompass abhängt, sondern auch von ihrer „mental map“, der Vorstellung, die sie von der Welt haben. Welche Typen gibt es?
Die am weitesten unter amerikanischen Präsidenten verbreitete Weltsicht ist wohl der „Realismus“, die Vorstellung, dass es in den internationalen Beziehungen keine übergeordnete Regierung geben kann, dass es sich um ein chaotischen System handelt, in dem jeder sich selbst helfen muss und in dem Vorsicht die wichtigste Tugend und ein Gleichgewicht der Macht das wichtigste Ziel ist.
Eine zweite Weltsicht ist der Liberalismus. Liberale Außenpolitiker gehen davon aus, dass die internationale Anarchie Grenzen hat und Regeln möglich sind. Kosmopoliten glauben an die weltumfassende Gültigkeit von Menschenrechten und eine Gesamtverantwortung aller für alle und messen daher dem Nationalstaat eine geringere Bedeutung bei.
Und welche Weltsicht ist aus moralischer Perspektive die „höherwertige“?
Aus meiner Sicht ist der Realismus kein schlechter Ausgangspunkt für die Außenpolitik eines Präsidenten, aber niemand kann dort stehen bleiben. Realismus wird sonst zu einer Ausrede für das Nicht-Handeln – und die wenigen Regeln, die wir haben, verfallen wieder. Ein gutes Beispiel ist die Reaktion von Donald Trump auf den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. Er reagierte darauf im Grunde mit einem Schulterzucken, er suggerierte, der Vorfall sei es nicht wert, Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien zu gefährden.
Wie würden Sie denn Donald Trumps Weltsicht kategorisieren?
Donald Trump ist eine Ausnahmeerscheinung. Er ist dermaßen selbstbezogen, dass man ihn in keine der traditionellen Kategorien einordnen kann. Er ist sicher kein Liberaler oder Kosmopolit. Er kann vielleicht als primitiver Realist gelten, aber ihm fehlt die Fähigkeit zur umsichtigen Abwägung.
Wird das Coronavirus die Bereitschaft der Amerikaner beeinflussen, sich international wieder stärker zu engagieren?
Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. Aber ich denke, die Coronakrise wird das Bewusstsein dafür stärken, dass es transnationale Gefahren gibt, die von keinem Land allein bekämpft werden können. In Zukunft wird es nicht mehr darum gehen, Macht über andere Länder zu haben, sondern Macht mit anderen Ländern. Dasselbe gilt für den Klimawandel.
Trump hat in der jetzigen Krise die Grenzen der USA für Europäer aus dem Schengenraum geschlossen, ohne sich mit Europa abzusprechen. Ich denke, in Zukunft werden wir nichts mehr tun können, ohne uns vorher abzusprechen.
Was meinen Sie, wie wird die Coronakrise die amerikanische Präsidentschaftswahl beeinflussen?
Die Coronakrise hat Donald Trump stark geschwächt. Er nannte die Krise einen Witz, eine Medienhysterie. Diese Aussagen sollten wohl die Börsen beruhigen – aber schauen Sie sich nur an, wo die Börsen jetzt stehen! Er wird als jemand dastehen, der als politischer Führer versagt hat. Außerdem werden wir in eine Phase der Rezession rutschen.
Das heißt, dass die Aussichten seiner Wiederwahl stark sinken. Aber seit 2016 wissen wir ja auch, dass die Politik voller Überraschungen ist. Man sollte keine Vorhersage mehr für bare Münze nehmen – auch meine nicht.
Der Titel Ihres Buches stellt ja die Frage: „Do Morals Matter?“. Wie beantworten Sie diese Frage?
Ein Freund sagte einmal, die Hauptzutat des außenpolitischen Kuchens seien Interessen, die Moral sei nur der Zuckerguss, der ihn hübsch aussehen lasse. Aber wenn Sie Moral nicht berücksichtigen, werden Sie die Geschichte nicht verstehen – und die Zukunft auch nicht.