"Il trovatore" an der Staatsoper: Treibhaus der Gefühle: Netrebko und Domingo in Berlin
Triumph mit Verdis „Il trovatore“: Anna Netrebko und Placido Domingo singen in Philipp Stölzls Inszenierung an der Berliner Staatsoper erstmals gemeinsam.
Es passiert fast beiläufig, am Ende des zweiten Bilds: Manrico, der Troubadour, hat Leonora ein Ständchen gesungen. Jetzt eilt sie in den nächtlichen Garten im Glauben, ihn dort zu finden – und stößt auf den Grafen Luna. Was folgt, ist ein Terzett der Frau und der beiden Rivalen, die erste der großen Eifersuchtsszenen in Verdis „Il trovatore“. Vor allem aber ist dies der Augenblick, um dessentwillen sie alle gekommen sind, um dessentwillen die Staatsoper im Schillertheater ausverkauft ist, diese und alle sechs folgenden Vorstellungen: Anna Netrebko und Placido Domingo stehen erstmals gemeinsam auf der Bühne, sie als Leonora, er als Luna. Die bekannteste Opernsängerin der Gegenwart und der letzte der legendären „Drei Tenöre“. Und dazu dirigiert Daniel Barenboim. In der Astronomie würde man so etwas eine Konstellation nennen.
Und Netrebko ist ja immer noch und immer wieder den Bohei wert, den man um sie macht. Die Batterie, die diesen Sopran befeuert, erscheint in manchen Momenten eher wie ein Kernreaktor. Sicher, gleich in der Auftrittsarie „Tacea la notte placida“ erlaubt sie sich einen Räusper, mitten im Gesang. Eine Netrebko darf das, und den kurzen Schock spült diese Stimme ja auch sofort hinweg, die stets getragen wird von einer purpurnen, rotglühenden, vulkanischen Unterströmung. In Leonoras zweiter großen Arie „D’amor sull’ali rosee“, da ist ihr Manrico bereits eingekerkert, merkt man, dass es Netrebko nicht ganz leicht fällt, die Power rauszunehmen, hinabzusinken in die ganz leisen Töne, und dass sie sich auch Wackler und Nachdrücken gestattet.
Aber das sind Details in einem insgesamt fast makellos gesungenen Auftritt. Wie hochprofessionell Netrebko agiert, zeigt sich auch daran, dass sie in den Massenauftritten zwar immer klar heraushörbar ist, die Szene aber nie stimmlich dominiert, obwohl sie es könnte. Und es zeigt sich darstellerisch. Würde man es nicht wissen, man würde nicht sehen, wie wenig sie von ihrer Figur hält. Ein „künstlicher Charakter“ sei Leonora, hat Netrebko vorab der Presse anvertraut. Niemand würde so sehr lieben, dass er dafür in den Tod gehe. „Ich glaube ihr nichts, keine Sekunde lang.“ In der Inszenierung kauert, robbt, kriecht sie dann doch um Lunas Beine, scheuert sich die Haut wund, holt sich blaue Flecken in dem mittelalterlichen spanischen Reifrock, in den Regisseur Philipp Stölzl und Kostümbildnerin Ursula Kudrna sie gesteckt haben – und in dem sie aussieht wie die Infantin Margarita auf Velázques’ berühmten „Las Meninas“-Gemälde.
Trotzdem: Anna Netrebko wird von Placido Domingo ausgestochen. Nicht szenisch, da stakst der Spanier, als hätte er ein Brett im Rücken. Aber in puncto Authentizität. Weil es schlicht anrührend ist, wie dieser 72-Jährige seinen Platz behauptet, immer noch da ist. Luciano Pavarotti starb, José Carreras hat sich zurückgezogen. Domingo war immer schon der Robusteste, Gesündeste der drei. An diesem Abend führt er einen Kampf mit sich, bei dem er verliert und gewinnt. Ihm dabei zuzusehen geht zu Herzen. Zieht das Tempo an, etwa im Handgemenge der Klosterszene, bleibt er stimmlich auf der Strecke, muss hörbar Luft holen, scheint auch mal den Text zu vergessen. Ist er allein, in seinen großen Arien, schimmert immer noch berückend viel herbstliche Wärme, Reife und Fülle durch diese Stimme, die – seit Domingo Bariton singt – wirkt, als würde sie beide Lagen, die hohe und die mittlere, in sich vereinen. Ironischerweise könnte er als Bariton hervorragend die vielen Väterrollen in Verdis Werk singen, aber ausgerechnet in „Il trovatore“ gibt er, dreißig Jahre älter als Netrebko, einen Liebhaber – wenn auch einen verschmähten.
Einspringer Gaston Rivero schlägt sich als Manrico wacker. Unendlich schade ist es deshalb, dass Rivero beim hohen C der so unglaublich prominenten Cabaletta „Di quella pira“ versagt und sich die ersten Buhrufe des Abends holt. Natürlich ist es völlig unfair, eine Gesangsleistung auf einen Ton zu reduzieren. Aber es gibt exponierte Stellen im Repertoire – das C in Normas „Casta Diva“, das dreigestrichene F der Königin der Nacht, Othellos „Esultate“ –, die müssen einfach kommen.
Die Bühne ist ein halb aufgeschnittener Würfel
Marina Prudenskaya als Azucena ist die Einzige aus der Ursprungsbesetzung (Stölzls Inszenierung kam im Mai bei den Wiener Festwochen heraus), die jetzt auch in Berlin singt, und sie schafft es, das hervorragende Niveau vom Frühjahr zu halten, singt sich ihre vor lauter Visionen, Scheiterhaufen und verbrannten Kindern irre gewordene Seele aus dem Leib. Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle – es ist für ihn, wie für Netrebko und Domingo, ein Debüt, der erste „Trovatore“ – scheint sich im Jubiläumsjahr nicht ganz entscheiden zu können, ob er Verdi oder Wagner dirigiert. Einmal zieht er das Tempo enorm an, schärft die Musik so prägnant, wie es dieser singulären Partitur zukommt. Dann lässt er, ebenso unerwartet, die Zügel los, zerdehnt die Zeit, als seien wir im zweiten Aufzug der „Walküre“. Was aber bei einem dermaßen disparaten Werk den Reiz nur erhöht.
Denn bekanntlich wird hier nur vordergründig eine kohärente Geschichte erzählt, während wir eigentlich schlaglichtartig Zeugen werden von lauter deformierten Charakteren, keine Menschen mit Seele, Sinn und Verstand, sondern Archetypen, heillos verstrickt in eine schlimme Vergangenheit, die zwar den grausigen, alles dominierenden Kern der Oper bildet, selbst aber abwesend ist und immer wieder nur in Erzählungen durchscheint – gleich zu Beginn in Ferrandos (kernig: Adrian Sâmpetrean) Racconto oder später in Azucenas „Stride la vampa!“.
Regisseur Stölzl, an Film- und Videoclipästhetik geschult, zwingt nicht herbei, was nicht da ist, sondern präsentiert die Bruchstücke offen, bloß, grell. Die Bühne: ein zur Hälfte aufgeschnittener Würfel, Sinnbild der Ausweglosigkeit, geistiges Gefängnis, das sich zwar durch Türen und Luken immer mal wieder kurzzeitig öffnet (Bühne: Conrad Moritz Reinhardt und Philipp Stölzl), das aber Freiheit und Erlösung nur vorgaukelt: durch Videoprojektionen, die sich ins Weltall oder wahlweise ins Unbewusste öffnen, Freud und Dalí stehen Pate. Der Boden: schief, nein – steil. Jeder, der hier agiert, kann abrutschen, immer. Die Staatskapelle hat sich ein Netz über den Graben spannen lassen und zeigt sich damit deutlich weniger mutig als ihre Wiener Kollegen vom ORF-Radiosymphonieorchester, die die Gefahr aushielten, dass ihnen tatsächlich etwas auf den Kopf fallen könnte.
Noch etwas ist anders als in Wien. Stölzl wollte das Werk ursprünglich als Comic inszenieren – mit expressiven Gesten, weit aufgerissenen Fratzen, gefrorenen Tableaus und Zeitlupentempi. Ein Konzept, das nur in den Massenszenen funktioniert, sich aber seit Wien schon abgeschliffen hat. Weil beim Staatsopernchor nicht alle mit der gleichen Intensität und Leidenschaft mitmachen. Und weil die Solisten gleich völlig auf diese Ästhetik verzichten. Dafür aber eine andere Form des Ausdrucks finden. Im letzten Bild: die vier Protagonisten, Leonora, Manrico, Luna, Azucena, verknäult zu einem Haufen Elend, vier zerbrechliche Menschen, die eine erbarmungslose Vorgeschichte nicht losgelassen hat. Zwei von ihnen: tot. Luna singt, mit innigster Verzweiflung: „Und ich lebe noch!“ Man weiß nicht, was schlimmer ist.
Udo Badelt