Anna Netrebko im Interview: „Sie wissen schon, Männer...“
Ihre Karriere begann sie als Hintern eines Feuervogels, sie war auch zwei Geißlein. Warum Anna Netrebko chinesische Viren fürchtet und zu den Weather Girls tanzt.
Mailand, Grand Hotel et de Milan. „Entschuldigen Sie die Verspätung“, ruft eine gut gelaunte Anna Netrebko. Sie empfängt im Maria-Callas-Zimmer. Ausgerechnet, denn bekanntermaßen weigert sie sich standhaft, über die Diva reden.
Frau Netrebko, Sie müssen der glücklichste Mensch der Welt sein.
Ah ja, und warum?
Forscher haben herausgefunden, dass beim Singen das euphorisierende Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Außerdem gelangt durch das tiefe Atmen besonders viel Sauerstoff in den Körper.
Das mit dem Sauerstoff stimmt schon. Die Luft strömt in meine Lungen, der ganze Körper arbeitet. Deshalb sind viele Opernsänger gesund, und sie leben ziemlich lange.
Noch eine Erkenntnis: Singen hemmt Stress.
Oh, der Stress ist aber schon da. Wenn ich eine dramatische Rolle annehme, wie zum Beispiel „Anna Bolena“, in die ich so viele Emotionen reinstecken muss, dann leide ich auf der Bühne. Ich bezweifle, dass solche Abende gesund sind. Dann gibt es wieder Rollen, die eigentlich sehr einfach und schön zu singen sind. Vor zwei Tagen habe ich hier an der Scala Mimì gesungen.
Trotzdem brauchen Sie drei Tage, um sich von einem Auftritt wie diesem zu erholen.
Definitiv. Die Scala ist härter als jedes andere Haus. Die lange Geschichte, eine seltsame Akustik, der große Druck. Ich singe nun schon so viele Jahre, und die Mimì ist nicht schwer. Aber es war mein Debut mit der Rolle an der Scala. Erst auf der Bühne begriff ich, wie schwierig das Publikum war. Es lauschte – und wartete. Meine Stimme flog weg, aber nichts kam zurück, verstehen Sie? Da wurde ich unsicher. Reicht meine Stimme aus?
Sie spüren, wenn das Publikum den Atem anhält?
Es ist schrecklich, weil man nie sicher sein kann, was danach passiert. Ich wusste nur, dass es ganz genau hinhört und jede einzelne Note, jede Phrase, beurteilen kann. Hier in Mailand kennen sie sich wirklich aus, das verkleinert den Druck nicht gerade. Ganz zum Schluss, als ich rausging, um mich zu verbeugen, hörte ich WWWAAAH! Es gab Ovationen. Das hätte ich nie erwartet.
In der U-Bahn trägt heutzutage fast jeder Kopfhörer. So viele Leute hören Musik, aber niemand singt.
In Wirklichkeit sind die Menschen sehr einsam. Als ich klein war, waren wir stets von einer großen Gruppe Freunden umgeben. Wir sangen viel, einfach so. Aber jetzt … die Menschen vereinsamen. Kinder spielen nicht mehr zusammen im Hof, wie es früher war, und für sich alleine singt man nicht.
Es klingelt an der Zimmertür. Anna Netrebko springt auf. Schwungvoller Auftritt eines Livrierten. Er bringt Cappuccino auf einem Silbertablett. Netrebko redet auf Italienisch auf ihn ein.
Der ist so süß! Seit vier Tagen bringt er uns das Essen aufs Zimmer. Und manchmal quäkt mein Sohn rum, weil er nur Pasta und Risotto will …
Placido Domingo sagte: „Wenn ich glücklich bin, wird auch das Publikum glücklich sein.“ Stimmt das?
Nein. Du kannst total unglücklich sein und trotzdem einen fantastischen Auftritt hinlegen. Viele Schauspieler sind zum Beispiel total unglücklich. Ich habe viele Biografien von Hollywood-Schauspielern gelesen – oh my God, das ist eine Katastrophe. Die Callas … halt, ich rede nicht über sie.
Ihr Geist ist sowieso anwesend. In diesem Zimmer hängen bestimmt 50 Fotos von ihr.
Nur so viel: Ihr Schicksal macht mich traurig. Was Placido sagt, stimmt nicht. Wenn du leidest, wird deine Kunst interessanter. Doch so möchte ich nicht sein. Ich bin lieber glücklich. Vielleicht trifft sein Satz auf das Privatleben zu: Wenn du glücklich bist, ist auch deine Familie glücklich.
Sie haben einmal gesagt, am Anfang Ihrer Karriere hätten Sie auf der Bühne jedes Mal geweint.
Manchmal. Die Gefühle kommen über die Musik, das ist normal.
Dann wurden Sie mit dem Satz zitiert: „Auf der Bühne muss ich wie ein Computer sein.“ Was stimmt denn nun?
Bei so einem Auftritt muss ich auf vieles gleichzeitig achten. Manchmal denke ich, mein Kopf ist ein dreidimensionaler Computer. Ich darf die Kontrolle niemals verlieren. Wenn man das lange genug macht, läuft dieser Computer irgendwann von ganz allein. Jetzt fehlen nur noch Gefühle.
Es heißt, Sie proben sechs bis neun Stunden täglich.
Nach sechs Stunden werde ich müde. Dann rutsche ich eine Oktave rauf oder runter, das ist noch schlimmer für Technik und Stimme.
Was hilft, wenn die Stimme erschöpft ist?
Ausruhen, gut essen, gesund leben. Und Tee.
Haben Sie schon mal schlecht gegessen, und dann war die Stimme angegriffen?
Nein. Essen ist meine Priorität.
Welche russischen Gerichte vermissen Sie?
Wenn ich nach Russland fahre, esse ich mehr und nehme zu: Russischen Salat, Borschtsch, Piroggen, Pelmeni, Wareniki. Alles mit saurer Sahne, plopp. Aber hier ernähre ich mich meist gesund.
Tut Ihnen das Singen schon mal körperlich weh?
Nur, wenn ich etwas erzwingen, von irgendwoher unbedingt Luft bekommen muss. Da falle ich fast in Ohnmacht. Oder ich treffe den Ton so hart, hier in der Brustgegend, das schmerzt. Manchmal ringe ich auch so um eine Betonung, dass mir am nächsten Tag die Muskeln in Hals und Kiefer wehtun.
2011 litten Sie unter einer langen Viruserkrankung.
Über einen Monat konnte ich nicht singen. Selbst danach war ich für vier weitere Wochen nur mit der Hilfe von Tee mit Honig und ausnahmsweise Schnaps in der Lage, zu singen. Es waren die Bronchien, ich wollte ja, aber es kam nichts.
Sie müssen sehr um Ihre Stimme gefürchtet haben.
Das war hart. Normalerweise bin ich robust, aber diese Viren sollen aus China kommen, da hilft auch keine Medizin mehr.
Sie haben schon liegend auf einem Sofa gesungen, Ihr Kopf hing nach unten. Gibt es eine Pose, in der Sie nicht singen können?
Gerade jetzt, wo ich schwerere Rollen singe, kann ich nicht mehr so viel hin- und her springen. Bei leichteren Rollen kann man mehr ausprobieren. Das mit dem Sofa war eine der unkomplizierteren Produktionen, es wurden unzählige Wiederholungen des Immergleichen angeordnet, und ich sagte mir, das kann nicht sein, ich muss mir etwas einfallen lassen. Nun wird diese Pose bereits kopiert!
Nach Berlin kommen Sie jetzt mit Tschaikowskys „Iolanta“. Sie sagten, dass man für eine solche Rolle erwachsen sein muss.
Im Konservatorium hieß es: Tschaikowsky? Es ist zu früh, zu früh, zu früh – und auf einmal ist es dann zu spät. Wahr ist, dass man technisch sehr gut vorbereitet sein muss, du brauchst die perfekte Kontrolle deines Atems. Die Stimme muss viele Klangfarben kennen, Kopf und Herz sollten erfahren sein. Es gibt bestimmt Leute, die können das bereits mit 20. Ich brauchte meine Zeit, um vieles über den Gesang und das Leben zu lernen.
Gab es einen Zeitpunkt …
… das ging ganz plötzlich, mit der Geburt meines Sohnes. Das Jahr danach haben sich Körper und Stimme anders angefühlt. Okay, sagte ich mir, jetzt probiere ich Schweres. Ich sang, und es ging.
Gibt es einen Popsong, der Ihnen gute Laune macht?
Ach, es gibt so viele, keine Ahnung … It’s raining men, hallelujah! Ich will sofort tanzen.
Die Weather Girls erinnern Sie an Ihre harte Party-Phase?
Sooo hart war das nicht, keine Ahnung, warum das immer alle denken. Ich habe auch nicht mehr Party gemacht als jeder andere in seinen Zwanzigern. Allerdings, so möchte ich betonen, ohne Drogen und ohne betrunken auf dem Boden zu liegen.
Lassen Sie uns ein paar Gerüchte, die über Sie in der Welt sind, verifizieren: Sie haben als Kind gerne Ihre Nachbarn erschreckt.
Oh! Wir haben unsere Gesichter mit weißer Farbe bemalt und uns hinter dem Fenster versteckt, ja.
Mit 16 waren Sie in St. Petersburg der Hintern von Strawinskys Feuervogel – Ihre Ballettpremiere.
Ich wollte Statistin sein, koste es, was es wolle. Und sie sagten: Gut, heute kannst du gehen, du musst das hier anziehen. Es war ein Schwanz! Packpackpackpack, so sollte ich laufen. Es war mein erster Auftritt, ich war so stolz. Der zweite Auftritt war in Don Carlos, da wurde mir der Kopf abgehackt. Inquisition – ein ganz großer Spaß!
In einer Aufführung von „Der Wolf und die sieben Geißlein“ haben Sie alle sieben Geißlein gespielt.
Falsch, es waren nur zwei.
Sie rollen gerne mit den Augen, wenn Ihr Mann am frühen Morgen Chansons von Jacques Brel singt?
Erwin? Am frühen Morgen singen?
„Ne me quitte pas?“
Hahaha, Erwin singt niemals am frühen Morgen. Wenn er allerdings gerade etwas Neues einstudiert, ist er permanent damit beschäftigt. Er hört es wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder UND WIEDER und wieder. Manchmal fängt er auch an zu singen, und ich sage: Mensch, Tiago macht gerade ein Nickerchen! Sie wissen schon, Männer…
Sie besitzen Wohnungen in St. Petersburg, New York und Wien.
I’m a real estate woman.
In welcher Stadt gehen Sie am liebsten spazieren?
Ich gehe überall gerne spazieren, und … war das mein Sohn? Anna Netrebko eilt zum Fenster, öffnet es weit, die Vorhänge flattern: Tiaaagoooo? Nein, das war er nicht, sorry. Ich habe einen guten Orientierungssinn, ich brauche kein GPS.
Wie unterscheidet sich der Sound der Städte?
New York ist immer laut, sogar wenn ich schlafe, macht es HMMMMWWWAWWWWAAAW. Ich wohne im 32. Stock, es summt und brummt, und es ist immer hell. Wunderschön. Und in Wien, obwohl wir im Zentrum leben: Stille, nur Vögel.
Haben Sie noch diesen Albtraum: Sie stehen auf dem Dach eines Wolkenkratzers und merken, wie sich dieser langsam bewegt und schließlich unter Ihnen zusammenkracht?
Ja, von Zeit zu Zeit.
Und den Albtraum, dass Sie auf der Bühne stehen, an sich runterschauen und feststellen: Sie haben kein Herz?
Nein, das bin ich nicht. Ich träume vielmehr, dass manche Teile meines Körpers nicht mit Kleidung bedeckt sind. Das bedeutet wahrscheinlich, ich habe Angst, etwas könnte schiefgehen.
Gibt es etwas, auf das Sie nicht verzichten können, obwohl es schlecht für die Stimme ist?
Auf das Fliegen. Aber ganz ehrlich, ich denke nicht darüber nach, was gut und was schlecht für die Stimme ist. Sonst werde ich paranoid.
Sie sagten einmal, die Oper sei wunderbar, aber Sie hätten auch Angst, das Leben zu verpassen.
Ich vermisse vieles! Zum Beispiel Urlaub. Wir arbeiten so hart, zum Glück bekommen wir auch gutes Geld dafür. Aber ich kann es nicht ausgeben, weil ich keine Zeit dafür habe. Ich arbeite permanent. Ich will gerne mal nach Thailand oder auf die Malediven, doch in den beiden Wochen Freiheit, die mir mein Terminkalender erlaubt, mag ich nicht wieder fliegen. Dann sacke ich irgendwo auf dem Sofa zusammen. Das ist nur ein Teil der Antwort. Hier der zweite Teil: Als ich das gesagt habe, hatte ich noch keine Familie. Das Wichtigste fehlte mir. Dann traf ich Erwin, wir beschlossen, ein Kind zu haben. Jetzt ist das Problem gelöst. Die Furcht, vielleicht allein zu sein, ist weg.
Können Sie beschreiben, wie es ist, jetzt genau zu wissen, was Sie 2016 machen?
Die großen Theater planen halt so. Wir wollen möglichst viel singen, hier- und dorthin, nichts verpassen … warum eigentlich? Ich sage mir immer: Stopp, Anna. Gib dir doch mal drei Monate frei, und jeder wird glücklich sein. Aber so bin ich nicht. Mein Mann auch nicht.
Was würden Sie in diesen drei Monaten tun?
Ich wäre einfach nur glücklich, würde nichts vermissen. Nachdem Tiago auf die Welt gekommen war, wollte ich auch nicht weitermachen.
Ein halbes Jahr später standen Sie wieder auf der Bühne.
Ich habe sechs Monate überhaupt nicht gesungen und nichts vermisst. Gar nichts.
Sie werden das Singen eines Tages nicht vermissen?
Ich hatte diese Angst, ich wurde älter, dachte, vielleicht gibt es nur noch wenige gute Jahre, und was kommt danach? Ich spürte, wenn ich etwas anderes im Leben habe, außer der Stimme, wird es schon werden. Ich glaube nicht, dass ich singe, bis meine Stimme UIUIUIKRCHZZZZZ.
Wenn Ihr Sohn in zwei Jahren in die Schule muss, wo werden Sie leben?
Wir mögen ja New York, mal sehen.
Ihr erster Besuch in Amerika …
… war wie im Märchen, was sage ich, wie in Disneyland. Jetzt sehe ich, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Doch damals war ich das kleine Mädchen aus Russland. Alles schien hell in Kalifornien. Die glücklichen Menschen. Jeder lächelte. Sie fragten mich: Anna, warum lächelst du eigentlich nie? Und ich: In Russland sagen sie, wenn du lächelst, bist du ein Idiot.
Werden Sie einen Privatlehrer für Tiago engagieren, damit er Sie auf Ihren Weltreisen begleiten kann?
Er soll ja irgend möglich eine normale Kindheit haben. Wir wollen, dass er Schulfreunde hat.
Ihr Mann und Sie sind oft in verschiedenen Städten. Ist Skype Segen oder Fluch für moderne Familien?
25 Dinge, die Sie nicht über mich wissen. Nummer 1: Ich habe keinen Computer. Ich weiß noch nicht mal, wie so etwas funktioniert. Erwin nutzt Skype, um mit seinen Eltern zu reden. Ich hab’s versucht, es funktionierte nicht, ich wurde sauer.
Und die anderen 24?
Oh, viele verrückte Dinge! Sie würden staunen!
Verraten Sie nur: Wie laden Sie Ihr Herz wieder auf?
Da gibt es nichts Besonderes. Vielleicht habe ich mehr Energie als andere …Sie deutet mit dem Finger nach oben. Grazie a dio.
Esther Kogelboom
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