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Gelassen. Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Berlin-Lichtenberg, arbeitete in ihrer Jugend als Hilfskrankenschwester in der psychiatrischen Klinik der Charité.
© Mike Wolff

Katja Lange-Müllers Roman "Drehtür": Träumen in der Transitzone

Die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller hat einen neuen Roman veröffentlicht: „Drehtür“ hat autobiografische Wurzeln und erzählt von einer Krankenschwester und ihren Katastrophen.

Normal geht anders. Diese Selbsterkenntnis teilen die Figuren in Katja Lange-Müllers Erzählkosmos seit ihrem Debüt „Wehleid – wie im Leben“ (1986) mit plebejischem Gleichmut. So auch die Berliner Krankenschwester Asta Arnold, die 22 Jahre in Hospitälern verbracht hat, von einer onkologischen Kinderstation in Rumänien über New York bis nach Managua. Am Hospital Alemán Nicaragüense hatten sich ihre Nachlässigkeiten zuletzt gehäuft. Statt zu arbeiten, sitze Schwester Asta „kettenrauchend und gedankenverloren, ja, wie weggetreten, stundenlang in unserem Pausenraum herum“, beschwerten sich die Kollegen beim Direktor. Zu ihrem 65. Geburtstag schenken sie Asta deshalb einen One-Way-Flug nach München; für Berlin habe das gesammelte Geld nicht gereicht, heißt es zur Erklärung, aber sie könne ja mit dem Zug weiterfahren.

So findet sich Asta Arnold in einer mehrfachen Transitzone wieder. Vor der Drehtür einer Raucherzone des Münchner Flughafens, noch fremdelnd mit ihrer Muttersprache, über deren Termini wie „Urlaub“ oder „Gesundheitswesen“ sie nachsinnt, sowie im Transit zwischen Berufstätigkeit und erzwungenem Ruhestand. Das erinnert an Wolfgang Hilbigs nachtschwarzen Roman „Das Provisorium“ (2000), in dem der Leipziger Schriftsteller C. ein Visum für Westdeutschland erhält. In einer abgründigen Mischung aus Verzweiflung und Alkoholismus verharrt er an den Bahnhöfen zwischen Hanau und München und lässt sein Leben Revue passieren.

Bei der in Ost-Berlin geborenen und in Leipzig ausgebildeten Asta verhält es sich nur insofern weniger dramatisch, als es sie nicht nach Schnaps, sondern pausenlos nach Zigaretten aus der Duty-FreeTüte verlangt. Ihren Namen übrigens verdankt sie aparterweise einer Schäferhündin, die der dänischen Schauspielerin Asta Nielsen ähnlich gesehen haben soll.

Die Autorin Katja Lange-Müller ist gelernte Schriftsetzerin

Im Airport-Niemandsland also überlässt sie sich nun ihren assoziativ aufblitzenden Erinnerungen, die bis 1967 zurückreichen. Damals las sie einen von Zahnschmerzen gepeinigten Asiaten auf der Straße auf, der sich als Koch der nordkoreanischen Botschaft entpuppte – und die bedankte sich prompt mit einem Blumenstrauß bei der Helferin. Jahrzehnte später trifft sie sich in einer scheußlichen tunesischen Ferienanlage heimlich mit dem dortigen Koch, während sich das Verhältnis zum mitgereisten Kurt stetig abkühlt, einem Pedanten und Katzenhasser mit erstaunlich rosafarbenem Hintern. Hilflos müssen Asta, Kurt und andere Urlauber mitansehen, wie eine deutsche Touristin beim Paragliding kollabiert und an einer Hauswand zerschellt.

Doch zurück zu den Köchen. Nicht nur die beiden Hauben- und Sympathieträger in „Drehtür“, sondern überhaupt die Bücher der gelernten Schriftsetzerin Lange-Müller - das bekannteste ist wohl "Böse Schafe" von 2007 - lassen an Brechts Forderung denken, die Köchin solle den Staat regieren. Brecht ließ in seinem „Badener Lehrstück vom Einverständnis“ aber auch untersuchen, „ob der Mensch dem Menschen hilft“. Dort enthalten ist die berüchtigte „Clownsnummer“, deren Uraufführung mit dem Theaterblut verströmenden Theo Lingen 1929 einen Skandal auslöste. Unter dem Vorwand zu helfen, sägen zwei Clowns einem Herrn Schmitt alle schmerzenden Körperteile ab.

Diese in der aktuellen Flüchtlingskrise hochaktuelle Frage nach der Ambivalenz des Helfens beschäftigt auch die Krankenschwester Asta: „Augenblicklich durchströmt dich warm ein Gefühlsgebräu, dessen Hauptbestandteile Mitleid und Tatendrang sind – und Verachtung, eine Überlegenheit heischende Verachtung, für die sich mancher, ob nun Profi oder Laienhelfer, auch noch selbst verachtet.“

In ihren Poetikvorlesungen bekannte Lange-Müller sich zur Poetologie des Brühwürfels

Wie Katja Lange-Müller, die 2013 den Kleist-Preis erhielt, unlängst in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen schilderte, kam sie selbst 1974 über die Arbeit als Hilfsschwester in der gerontopsychiatrischen Station der Charité zum Schreiben. Es half ihr, den ersten Todesfall zu bewältigen, den sie dort erlebte. In Frankfurt bekannte sie sich auch zur Poetologie des Brühwürfels – „kompakte Extrakte, für manche vielleicht zu salzig“ – als Sinnbild für ihr verknapptes Erzählen. Um so überraschender, dass manche Episode im neuen Kompaktroman allzu gedehnt wirkt. Die titelgebende Drehtür fungiert wie ein Theatervorhang zwischen Episoden rund um das Thema Hilfe; Asta baut aber ebenso den ausgedehnten Indien-Bericht einer Kollegin in ihren inneren Monolog mit ein.

"Drehtür" erscheint bei Kiepenheuer & Witsch.
"Drehtür" erscheint bei Kiepenheuer & Witsch.
© KiWi

Diese Tamara Schröder, die sich mit Che Guevaras deutscher Gefährtin Tamara Bunke identifiziert, hat Spritzen und Mullbinden eine Zeitlang mit der Schriftstellerei getauscht. Auf der Frankfurter Buchmesse lernt sie eine indische Feministin kennen, die sie mit einer Erzählung über Nähmaschinen begeistert: „Von den Wörtern, die Shamim, weiterhin stehend und mit flackerndem, vielleicht ins Nirwana gerichtetem Blick, ausspie wie eine Feuerfontäne, verstand ich nur ‚Singer sewing machine' und ‚very important for Indian woman'“. Tamara wird daraufhin zu einer Lesung vor Säureopfern in Kalkutta eingeladen und soll von Deutschland aus hunderte von Nähmaschinen für die versehrten und verstoßenen Frauen organisieren. Dem humorvollen Fatalismus von „Drehtür“ entsprechend, endet dieser Hilfeversuch mit der völligen Erschöpfung der Helfenden.

Frei assoziierend reiht die erzählende Krankenschwester Erinnerungen aneinander

„Über das Bild des Kochs in der Vorratskammer des Airport-China-Restaurants schiebt sich ein anderes“: Derart frei assoziierend reiht Asta Erinnerung an Erinnerung, auch wenn es nicht immer ihre eigenen sind. „Ich bin ein bisschen bindungsschwach“, bekannte Katja Lange-Müller dieser Tage in einem Interview. „Das teile ich mit meiner Asta, das haben viele Leute in helfenden Berufen.“ Nur der ausgemusterten Krankenschwester hilft am Schluss niemand. Mit ihrer sehr eigenen Untersuchung, ob der Mensch dem Menschen hilft, hat Katja Lange-Müller unversehens ins Zentrum des Zeitgefühls getroffen.

Katja Lange-Müller: Drehtür. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 224 S., 19 €.

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