Kultur: Eine Selbstentblößung, die ihresgleichen sucht: Wolfgang Hilbigs Aufsehen erregender neuer Roman
Wolfgang Hilbig hat einen Nachttext geschrieben, eine Nocturne. Keine Nacht ist so dunkel wie die Schwärze im eigenen Inneren.
Wolfgang Hilbig hat einen Nachttext geschrieben, eine Nocturne. Keine Nacht ist so dunkel wie die Schwärze im eigenen Inneren. Der Protagonist C. in Hilbigs neuem, lang erwarteten Roman "Das Provisorium" läuft gleichsam mit einem Schwarzfilter vor den Augen durch die Welt. C. ist ehemaliger Industriearbeiter und Schriftsteller, ein unwilliger, halbherziger DDR-Bürger, der Mitte der achtziger Jahre durch ein Visum ebenso unwillig in den Westen gerät. Das Visum erlaubt es ihm, ein Jahr lang hin- und herzufahren. Doch die scheinbare Freiheit, von der so viele Ostdeutsche träumten, gerät C. zum Fluch. Eine massive Schreibhemmung befällt ihn nach dem Grenzübertritt. Dieses vordergründige Versagen treibt C. immer tiefer in den Alkoholismus. Seine obsessive Melancholie lähmt ihn und jagt ihn zugleich ziellos vorwärts.
Wo er sich auch hinbegibt, ob nach Hanau, Nürnberg, Leipzig oder ins geteilte Berlin - er bleibt unbehaust und im Grunde genommen abwesend. Mit dem Lyrikband "abwesenheit" debütierte Wolfgang Hilbig 1979 im Westen. Im titelgebenden Gedicht heißt es: "wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet / keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind / wie wir in uns selbst verkrochen sind / in unsere schwärze". Gut zwanzig Jahre später vollendet sich der thematische Kreis. "Das Provisorium" ist ein radikales Buch, strahlend vor negativer Energie. Hilbig schrieb fünf Jahre lang an dem Text, eine erste Fassung in der Ich-Form arbeitete er komplett um. 1993 war sein Roman "Ich" über die Innenansichten eines Stasi-Spitzels zur literarischen Sensation geraten.
C., den Mann aus dem Osten mit der schwarzen Seele, setzt der Autor gnadenlos der gleißenden Helligkeit einer Nürnberger Einkaufspassage aus. Der Lichtmetaphorik fällt eine zentrale stilistische Bedeutung zu. Der Lyriker und Romancier Wolfgang Hilbig hat die schützenden Heizungskeller, Abraumhalden und "Elendshöhlen des Massivs Berlin", von denen im Roman "Eine Übertragung" die Rede ist, verlassen. Er begibt sich erstmals an den Schauplatz alte Bundesrepublik, und zwar dorthin, wo Westdeutschland besonders abschreckend und zugleich typisch ist: in die Innenstadt, in das Einkaufsparadies der Fußgängerzone. Nürnberg wird für C. zum tragikomischen Alptraum bundesdeutscher Normalität.
Hilbig beschreibt mit sakral getöntem Sarkasmus eine omnipotente Maschinerie der Glückssimulation. Der Blick seines östlichen Protagonisten ist einseitig, dessen Kritik am Konsumverhalten irritierend plakativ. Der Westen, meint er, sei etwas für die Idiotenherde der DDR-Bürger, denen es nur um Langnese und Kondome mit Bananengeschmack gehe. Diese stereotype, mit Lust vergröbernde Sichtweise dürfte mit der Projektion eigener Mängel des Erzählers C. zu tun haben. Dennoch erstaunt der antikapitalistische Furor bei Wolfgang Hilbig immer wieder, etwa 1995 seine Verdammung der sogenannten "Autogesellschaft" . Sie wiederholt sich seitenweise im neuen Buch.
Das "völlig sinnentleerte Begriffssystem", das Hilbig in seinen Vorlesungen der DDR attestierte, scheint sich auf trostlose Weise im wiedervereinigten Deutschland fortzusetzen. In Ost und West werden die Menschen um ihre Hoffnungen betrogen, hier wie dort gibt es keine lebbare Utopie. "Das Provisorium" sucht die Gesellschaft an ihren wundesten Punkten auf, in Tabuzonen wie dem Suchtentwöhnungstrakt einer psychiatrischen Klinik. An diesem Ort wird der lamentierende C. ganz zum Beobachter - eine wohltuende Metamorphose. Gezeigt wird in diesem beeindruckenden Abschnitt, wie Menschen mitten in Frieden und Wohlstand aufs Elementarste zurückgeworfen werden, wie sie binnen Stunden zur Kreatur herabsinken.
Hilbigs Geschichtspessimismus hat sich in diesem, seinem durch die unbedingte Subjektivität radikalsten und angreifbarsten Roman zu einer einzigen Suada gesteigert, zu einem Strudel, der den Leser ins Bodenlose mitreißt. Der geballte Negativismus ist nicht leicht auszuhalten. Der Selbsthass des Protagonisten bricht alle Dämme der Selbstachtung. C. richtet seine Aggression vor allem gegen sich selbst, gegen seinen zähen Proletarier-Körper. "Schonungslose Offenheit", dieser bei Politikern so beliebte Ausdruck, hier trifft er zu. "Um meine Werke schreiben zu können, habe ich meine Biografie, meine Person geopfert", zitiert Hilbig eingangs programmatisch August Strindberg. "Das Provisorium" stellt also keinen Schlüsselroman dar, sondern die schmerzhafte, vielleicht aber auch heilsame Sublimierung der eigenen Existenz in Literatur. Was das für die im Buch vorkommenden anderen Personen bedeuten mag, die unschwer identifizierbar sind, bleibt dahingestellt. Der Text bekennt sich nun mal zu konsequenter Egozentrik. Die Lebensdaten von Autor und Figur stimmen überein, beginnend mit der Geburt 1941 in der Kleinstadt M. bei Leipzig, gemeint ist Meuselwitz. Der Vater fiel in Stalingrad, Mutter und Sohn kamen bei den Großeltern unter. Der "Nesthocker" machte eine Lehre als Dreher, arbeitete als Monteur, Erdarbeiter, Heizer, Kesselwart. Seit seiner Schulzeit geriet ihm das Schreiben zur sorgsam verborgenen Leidenschaft. Die Literatur als Metier, das von der Familie und der materialistischen DDR-Gesellschaft verachtet wird, zieht sich als konstantes Motiv durch Hilbigs Werk. Der unauflösliche Widerspruch von Arbeiterdasein und Künstlerexistenz dramatisierte sich zum persönlichen Lebenskonflikt. Zeugnis davon gibt unter anderem sein Essay "Die Arbeiter" von 1975. Es geht bei ihm und seinen hadernden Helden um nichts weniger als die Selbstschöpfung eines Schriftstellers in kunstfeindlicher Umgebung. Dieser Akt hat etwas Exhibitionistisches, Egomanisches. Ein weibliches Autoren-Ich hätte vielleicht Hemmungen, sich so dezidiert ins Zentrum zu rücken. Ohnehin ist "Das Provisorium" auch ein Buch der - verzweifelten - Männerphantasien. Im Osten wird der Schriftsteller C. von der Zensur drangsaliert, die er als vorgeschaltete anonyme Kritik empfindet, im Westen stößt er, der keine Zeile mehr zuwege bringt, auf die Kälte des kommerziellen Literaturbetriebs.
Diese Passagen über den angeblichen Stellenwert der Literatur in Westdeutschland, über Lesungen und Parties, auf denen der sächsische Exot herumgereicht wird, beziehen ihre beißende Häme aus dem eigenen Erleben. Von einer Gönnerin aus Nürnberg erhält C. eine gelbliche Lederjacke geschickt. Sie wird ihm zur zweiten Haut seines wechselvollen Lebens, zu einer Art Uniform des Provisorischen.
An Smalltalk liegt ihm nichts. Auf Lesereisen bleibt er im Hotel, trinkt und schaut Pornos an, den Ton leise stellend, "so dass er das schweinische Quieken der aufgegeilten Frauen gerade noch hören konnte". Oder er verweilt gleich am Bahnhofskiosk. Das Visum verstreicht, er begibt sich in eine bezugslose Zwischenexistenz. "Das Provisorium" ist nicht zuletzt eine quälend ehrliche Liebesgeschichte: Seine Leipziger Beziehung zu Mona lässt C. feige einschlafen. Die neue Freundin Hedda in Nürnberg enttäuscht er fortwährend, bis sie sich von ihm trennt. "Irgendwann muss ich begonnen haben zu glauben, die Liebe sei das Abwesende", heißt es in "Eine Übertragung".
Der Roman ist kreisförmig angelegt: Vom Anfang in der Nürnberger Fußgängerzone ausgehend wird im Rückblick von den Jahren 1985 bis 1989 erzählt. Es handelt sich quasi um einen historischen Bericht aus der letzten Lebensphase der DDR, als es noch den Visumszwang und die Grenzkontrollen gab. All das streift der Autor, doch zeitgeschichtliche Ereignisse wie Tschernobyl oder die Maueröffnung dringen höchstens als Hintergrundgeräusche in den inneren Monolog des Helden. Der ehemalige DDR-Schriftsteller Wolfgang Hilbig neigt mehr zur artistischen, vom Symbolismus beeinflussten Verkapselung als zur Aufklärung. Die innerdeutsche Grenze, die als literarische Kategorie etwa das Werk Uwe Johnsons prägt, bedeutet für Hilbig nur ein Übel von vielen. Für derartige Rationalisierungen ist dieser Romancier zu sehr Lyriker, wandelt er zu sehr auf den Spuren eines Charles Baudelaire oder Nikolaus Lenau, ist er zu sehr der schwarzen Romantik verpflichtet. Sein Mentor Franz Fühmann brachte Hilbigs untergründiges Drängen nach einer subjektiven Utopie auf die Formel vom "Durst nach der Anwesenheit des Fasans auf dem Brikettberg in Meuselwitz".
Utopische Anflüge finden sich bei aller irdischen Verzweiflung im Denken und Fühlen des C., selbst wenn er mit Sicherheit Hilbigs prosaischster Held ist. Das Banale seiner Lebensumstände färbt gelegentlich auf die Figur ab und dämpft das Interesse an ihrem Schicksal. In C.s Träumen vom Leipziger Hauptbahnhof verheißt eine aus dem Dunkel strebende Sonne Geborgenheit, Aufbruch, Freiheit, die Fahrt ins Licht. Fast kündet dieser Moment, der sich am Schluss wiederholt, von einem leuchtenden, heimatlichen Kindheitsparadies, wie es Ernst Bloch in "Das Prinzip Hoffnung" beschwor. Doch die Lichtmetaphorik trügt: Die Helligkeit erweist sich als Reklamelicht, als böse, kapitalistische Täuschung.
Ähnlich wie bei der Hauptfigur in Hilbigs Erzählung "Die Weiber", einem Vereinzelten, dessen Wahrnehmung ganz in Düften, Gerüchen, Ausscheidungen aufgeht, fällt C.s starker Körperbezug auf. Er äußert sich nicht nur in seiner obsessiven Trunksucht und Sexualität, sondern führt bis zur Auflösung des Materiellen, bis zur surreal vorweggenommenen Verwesung. In einigen dieser düsteren Episoden blitzt er unvermutet wieder auf, der alte Hilbig-Ton, die Utopie der sächsischen Wälder, unberührt von der gesamtdeutschen neuen Sachlichkeit.
"Das Provisorium" ist ein gewaltiger Kraftakt, eine Selbstentblößung, die ihresgleichen sucht. Ein Ende oder Ziel hat dieser Text nicht, das würde seinem Gestus der dumpfen Kreisbewegung widersprechen. Um aus einem derartigen autobiographischen Steinbruch Literatur zu schlagen, bedarf es eines Schriftstellers vom Range eines Wolfgang Hilbig, eines Orpheus der schwarzen Bahnhöfe. Dennoch erzeugt das eher Respekt als Begeisterung. Der "Durst nach der Anwesenheit des Fasans auf dem Brikettberg in Meuselwitz", von dem Fühmann sprach, ist geblieben.Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000. 320 Seiten, 39,80 Mark.
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