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Der "White Room" im Haus der Kulturen ist wie eine Experimentierstube aufgebaut.
© Laura Fiorio/HDK

Die Ausstellung "Nervöse Systeme" im Haus der Kulturen: Träume sind nicht dechiffrierbar

Das Haus der Kulturen der Welt zeigt mit der erhellenden Ausstellung „Nervöse Systeme“, wie die digitale Überwachung mehr und mehr die Kontrolle über unseren Alltag übernimmt.

Alles will die Behörde wissen, alle Daten sammeln, bei Tag wie bei Nacht. Geheime Dossiers, gehortet in gigantischen Archiven, enthalten sogar die Träume der Untertanen. Sorgsam kategorisiert sind dort auch die Inhalte aus dem Unbewussten der Untertanen abgelegt. In den Abteilungen für Selektion und Interpretation der Träume arbeiten „Ausleger“, „Deuter“ und „Entschlüssler“. Ismail Kadare, Albaniens bedeutendster Gegenwartsautor, schrieb „Der Palast der Träume“ 1981. In seinem Land wurde das an Kafka geschulte Werk sofort verboten. Die Zensur witterte den Sinn der Dystopie.

Ebenfalls 1981 erschien in Amerika ein Weltbestseller. „The Soul of a New Machine“ von Tracy Kidder enthielt den Bericht über konkurrierende Computerdesigner der Data General Corporation in Massachusetts. Sensationell las sich, was kreative Berufsanfänger hier aus dem unkonventionellen Klima ihrer digitalen Arbeitswelt schilderten. Die Öffentlichkeit witterte den Beginn einer realen Utopie.

Träume können Machthaber bis heute nicht lesen. Das werden sie nie. Doch digitale Technologie, so erklärt Anselm Franke, macht es nun möglich, allein anhand des Rhythmus, mit dem jemand ein Keyboard am Computer bedient, dessen Identität zu ermitteln. Franke ist einer der Kuratoren der Ausstellung „Nervöse Systeme. Quantifiziertes Leben und die soziale Frage“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). Sie widmet sich den subtilen Überwachungsszenarien und anderen suspekten Aspekten des Digitalen. 35 Jahre nach den beiden oben zitierten Publikationen scheinen sich Dystopien wie in Kadares Palast der Macht auf eine Allianz mit den Netzwerken der „New Machines“ zuzubewegen.

Wie präsentiert man so ein Thema? Am HKW probieren sie es mit komplexen Impulsen, mit Installationen, Videos, Leinwänden, auf denen Filmbilder zittern, Schautafeln, Malerei und Vitrinen für Exponate aus analogen Epochen. Rund drei Dutzend Künstler steuern Arbeiten bei, darunter Harun Farocki, Eyal Sivan, Lawrence Abu Hamdan. Vertreten ist auch On Kawara, dessen 1969 begonnene Aktion, Freunden Telegramme mit dem Text „I AM STILL ALIVE“ zu senden – 900 Telegramme in drei Jahrzehnten – wie eine ironische Vorwegnahme der pausenlosen Selbstmitteilungen via Facebook und Twitter wirken. Trillionen Bits und Bytes flirren sekündlich durch Glasfaserkabel, E-Mails, Fotos, medizinische Daten, wissenschaftliche Analysen, Warenbestellungen, Aktienkurse, Nachrichten, Propaganda. Aus Senden und Nutzen ergeben sich Raster, Gitter, Profile, die Daten liefern können an andere, an Ämter, Armeen oder Versicherungen.

Nervöse Systeme haben den "Choc" abgelöst

Nervöse Systeme, sagt Kurator Franke, hätten als neue Leitmetapher zum Verhältnis Mensch-Maschine das Paradigma des „choc“ abgelöst, der am Anfang des 20. Jahrhunderts das traumatische Verhältnis der Psyche zur Technik der Industrialisierung markierte. Teilen, Mitteilen, Preisgeben, Ausspähen, Überwachen: Auf dem virtuellen Territorium der Data Economy wird wider Willen kollaboriert, jeder macht mit. Wie in Kadares fiktivem Palast scheint die akkumulierte Datenbeute heute in geheimen Speichern zu lagern, faszinierend und bedrohlich zugleich. „Hier findest du alles“, verrät Kadares Archivar dem Neuling, den er durch das Labyrinth führt.

In der grandiosen Übersetzung von Joachim Röhm heißt es weiter: „Verstehst du, was ich sagen möchte? Wenn die Welt einmal nicht mehr existiert, wenn die Erde mit einem Kometen kollidiert, in Trümmer zerfallen, verdampft oder einfach in den Weiten des Weltalls verschwunden ist, dann würden fremde Lebensformen in diesem mit Akten vollgestopften System von unterirdischen Gängen, so es denn übrig wäre, umfassende Informationen über den verschwundenen Planeten finden.“

Einstweilen tragen die subversiven Helden im coolen Datendrama Namen wie Edward Snowden oder Julian Assange, nahezu mythische Leute, die ins Innerste staatlicher Nervenapparaturen eindrangen und deren Inhalte nach außen gestülpt haben. Liebevoll bis ins Detail nachgebaut ist in der Ausstellung der Büroraum in der Londoner Botschaft von Ecuador zu sehen, in dem sich Assange seit Jahren vor der Auslieferung an Schwedens Staatsanwaltschaft schützt, die den verschroben Wirkenden wegen eines Sexualdelikts anklagen will. Am anderen Ende der Halle haben Aktivisten des „Tactical Technology Collective“ einen „White Room“ im Stil von Apple-Shops aufgebaut, worin weiß gewandete Mitstreiter für den bewussteren Umgang mit dem Digitalen werben.

Wunderbar geeignet ist die Ausstellung nicht nur für grüblerische Nerds und coole Start-up-Kids, sondern für alle, die Lust auf das Befragen einer rapide sich transformierenden Gegenwart haben, die uns alle paar Minuten schon aus der Zukunft zuzuwinken scheint. Wie zähmbar und wie nutzbar können Datenmassen werden? Ein paar Ausstellungsbesucher kamen ins Gespräch darüber, wie sie Bestell-Websites in die Irre führen, indem sie bei „Reisen nach Rio de Janeiro“ herumklicken, obwohl sie ins Allgäu fahren.

Klar sah Kadares Archivar, dass selbst die Datendeuter nie perfekt waren. „Aber sie verstehen auch nicht mehr, wenn sie so dasitzen, diese Wichtigtuer, darauf wette ich. Sie tun so, als seien sie von der Dechiffrierung geheimer Botschaften völlig in Anspruch genommen, aber in Wahrheit denken sie bloß an ihre häuslichen Probleme oder an die nächste Gehaltserhöhung.“

Haus der Kulturen der Welt. Bis 9. Mai, Mi bis Mo 11–19 Uhr.

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