Europäischer Filmpreis: Toni Erdmann und der Traum von Europa
Triumph für Maren Ade: Bei der Europäischen Filmpreis-Gala gewinnt ihre Tragikomödie "Toni Erdmann" gleich fünffach. Und die Gala wird über weite Strecken zur Demo gegen freiheitsfeindliche Politik.
Wäre auch das jetzt national, gar nationalistisch zu lesen? Maren Ades „Toni Erdmann“ alias „Teutoni Erdrutsch“ knipst beim Europäischen Filmpreis am Sonnabend in Breslau alle Konkurrenten aus – und das gleich in allen fünf entscheidenden Kategorien? Deutsche Filme hatten es in diesem Jahrtausend nicht schlecht bei den europäischen Oscars: 2004 gewann Fatih Akins „Gegen die Wand“, und 2003 holten Wolfgang Becker mit „Good Bye, Lenin!“ und 2006 Florian Henckel von Donnersmarck mit „Das Leben der Anderen“ außerdem die Trophäen für Hauptdarsteller und Drehbuch. Einen solchen Durchmarsch aber gab es noch nie. Bester Film, beste Regie und bestes Drehbuch für Maren Ade, dazu das spannungsreiche Vater-Tochter-Gespann Peter Simonischek und Sandra Hüller!
Nationalstolz? Unsinn. Die aus allen 47 europäischen Staaten stammenden 3200 Mitglieder der European Film Academy haben schlicht für den originellsten und vielseitigsten unter den fünf nominierten Konkurrenten in der Hauptdisziplin Bestes Drama gestimmt. Für einen Solitär, der von den neoliberalen Kälteschocks der Globalisierung über die Entfremdung zwischen den Generationen bis hin zum labilen Verhältnis zwischen Erfolg und Essenz reichlich Themen enthält, ohne auch nur in einer seiner 162 Minuten ein Film „zum Thema“ zu sein. Wohl auch votierten sie für das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit – in Cannes war „Toni Erdmann“ leer ausgegangen – und für eine überfällige Diversität. In ihrer dritten so knappen wie substanziellen Dankesrede erwähnt Maren Ade pointiert beiläufig, dass beim nunmehr 29. Durchgang der europäischen Gala erstmals der Film einer Regisseurin ausgezeichnet worden sei.
An diesem Montag, noch ein Glückwunsch, wird Maren Ade 40 – und nach dem europäischen Triumph spricht nun umso mehr dafür, dass der Siegeszug ihres auch im Kino erfolgreichen Films über die ebenfalls heute zu verkündenden Golden-Globe-Nominierungen stracks zum Oscar führt. Bei der Verleihung des US-Kritikerpreises Critics' Choice Awards ging "Toni Erdmann" am Sonntagabend aber leer aus. Er unterlag in der Sparte „Bester nicht-englischsprachiger Film“ dem französischen Film „Elle“.
In Breslau dagegen ist der Verlierer des Abends der noch immer großartig energische, doppelt so alte Ken Loach. Sein mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichneter „Ich, Daniel Blake“, ein wuchtiges, (melo-)dramatisches Pamphlet gegen kaltherzige Sozialbehörden und die Verarmung von Millionen nicht nur in Großbritannien, galt als stärkster Rivale von „Toni Erdmann“; in kollektiver Weisheit aber stimmten die in der Academy vereinten Filmkünstler gegen das letztlich vor allem politische Statement. Den nominierten Mitbewerbern, Pedro Almodóvars „Julieta“, Paul Verhoevens „Elle“ und Lenny Abrahamsons „Room“, bot sich neben diesen beiden Schwergewichten ohnehin keine Chance.
Der Kapitalismuskritiker Ken Loach spricht am Mittag eine Stunde über Europa und den Brexit
Immerhin, am Mittag vor der Preisverleihung hat auch Ken Loach seinen prominenten Auftritt. In einem frei gesprochenen einstündigen Vortrag redet er seinen Kollegen ins Gewissen, nicht nur schöne Filme zu machen und über die aktuelle Krise Europas zu jammern, sondern auch politisch zu handeln. „Es ist fünf vor zwölf, die Barbaren treten die Tür ein“, sagt er und etabliert einmal mehr die Frontstellung zwischen „Arbeiterklasse“ und „Gangsterkapitalisten“. Seine Kernthese, wonach die EU Letzteren als williges Instrument dient, führt er so engagiert und beispielreich aus, dass kaum plausibel wird, warum er im Juni gegen den Brexit gestimmt haben will. Seine „taktische“ Entscheidung begründet er mit der Sorge vor noch größeren ökonomischen Nachteilen für sein Land. Pro-europäisch dagegen tönt bei Loach nichts.
In den Gesprächen an diesem Breslauer Wochenende dominiert ohnehin anderes: vor allem der Blick auf die drohende und teils schon stattfindende Abschaffung der Demokratien durch gewählte Regierungen und die Dekonstruktion des nach 1989 politisch behutsam zusammengewachsenen Kontinents. So brüsten sich ungarische Filmleute sarkastisch damit, wenigstens in dieser Hinsicht dank Orbán ganz weit vorn zu sein. Die Balten wiederum denken laut darüber nach, welche geopolitischen Ziele Putin nach der Pazifizierung Syriens wohl als Nächstes verfolgen mag. Und von Polen ist hin und wieder der Stoßseufzer „God save Angela Merkel“ zu hören. Als brauche der Kontinent jetzt eine Art Königin: überparteilich, supranational, zivilisatorische Werte souverän repräsentierend. Und das, wie sich’s gehört, auf Lebenszeit.
Politische Appelle und Warnungen auch Richtung Polen gab es reichlich bei der Gala
Polen verwandelt sich derzeit am offensichtlichsten in eine Demokratur, um den Preis der politischen Spaltung des Volkes. Seit die rechte PiS-Regierung am Ruder ist, werden in Medien und Kulturinstitutionen – man denke an die jüngste Entlassung der Leiterin des Polnischen Kulturinstituts in Berlin, Katarzyna Wielga-Skolimowska – nicht regierungskonform denkende Köpfe nahezu stalinistisch aus ihren Ämtern herausgesäubert.
Immerhin gibt es Protest. In Breslau etwa wurde, zur Eröffnung des Kulturhauptstadtjahrs Mitte Januar, der neue Minister „für Kultur und nationales Erbe“, Piotr Glinski, ausgebuht. Kaum angetreten, hatte er versucht, im renommierten Breslauer Teatr Polski die Aufführung von Elfriede Jelineks Stück „Der Tod und das Mädchen“ wegen angeblich pornografischer Darstellungen zu unterbinden. Inzwischen ist der Intendant ersetzt worden; das Ensemble veranstaltet unterdessen nach den Vorstellungen stets eine Schweigeminute – mit schwarzem Klebeband auf den Mündern.
Auch die überlange, aber denkwürdige Gala am Sonnabend in der neuen Breslauer Philharmonie gerät stellenweise zur leidenschaftlichen Demo. Zu Beginn setzt der seit 2002 amtierende parteilose Bürgermeister Rafal Dutkiewicz den Ton. Nichts anderes als „stinkender alter Schweiß“ sei die Welle von Nationalismus, die derzeit den Kontinent erfasse. „Geh duschen, Europa!“, ruft er in das jubelnde Auditorium, das die schmissige Parole vor allem als Mahnung an Polens rechte Machthaber versteht. Wie ein Leitmotiv geistert auch Krzysztof Kieslowskis legendärer Satz „Ich hoffe, Polen liegt in Europa“ durch den Abend, zitiert in der Erinnerung an dessen Sieg bei der ersten Europäischen Filmpreisverleihung, ein Jahr vor dem großen Wandel 1989. So sagt der Schauspieler und Gastgeber Maciej Stuhr, der bereits vor zehn Jahren in Warschau einmal die Gala moderierte: „Und wir waren so sicher, wir gehören dazu“.
Nächstes Jahr feiert die Europäische Filmakademie 30. Geburtstag - in Berlin
Krisen hin und her: Als zumindest kulturell kohärenter Kontinent ist Europa beglückend konkret bei diesem alljährlichen Zusammentreffen der vielsprachigen Filmemacher. Und als, spät am Abend, Sänger eines Breslauer Studentenchors mit durchdringender Energie das „Lied von der Vereinigung Europas“ anstimmen, das Zbigniew Preisner 1993 nach dem berühmten Bibeltext aus dem 1. Korintherbrief für Kieslowskis Film „Drei Farben: Blau“ komponierte, sind Melancholie und Zusammenhalt im Saal gleichermaßen zu spüren.
Requiem auf einen Traum? Nächsten Dezember versammelt man sich zur 30. Gala in Berlin. Dann haben die Niederlande (im März), Frankreich (April) und Deutschland (September) gewählt.
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