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Bezugspunkt. Im Roman betreibt eine adlige Ex-Werbefachfrau einen Kreuzberger Späti – mit mäßigem Erfolg.
© Florian Schuh/dpa

Helden der neuen Normalität: Thorsten Nagelschmidts Roman "Arbeit"

In seinem großartigen Roman „Arbeit“ erzählt der Berliner Schriftsteller Thorsten Nagelschmidt von denen, die den Laden am Laufen halten.

Schriftstellern und Schriftstellerinnen wird gern attestiert, visionäres Potential zu haben, manchen Büchern und Texten gar, mehr zu wissen als diejenigen, die sie schreiben. Natürlich ahnte der Berliner Schriftsteller Thorsten Nagelschmidt nichts von der Corona-Pandemie, als er sich an seinen Roman „Arbeit“ setzte. (S. Fischer, Frankfurt/M. 2020. 334 S., 22 €.)

In Teilen liest sich dieser jetzt wie der erste Corona-Roman, von dem im Moment alle reden, an dem jetzt angeblich so viele Autoren und Autorinnen sitzen. Selbst wenn es in naher Zukunft haufenweise solcher Corona-Romane geben sollte, könnte man sagen, dass Nagelschmidt einen der besten geschrieben hat, einen, an dem sich die folgenden messen lassen müssen. 

Nagelschmidt erzählt in „Arbeit“ unter anderen von denen, die seit Beginn der Viruskrise landauf, landab als „Helden“ bezeichnet werden und in der alten Normalität in der Regel zu den Unsichtbaren gehörten.

Von Rettungssanitäterinnen und Notarztwagenfahrern, von Polizisten und Polizistinnen, von einer Späti-Betreiberin und einer Buchhändlerin, die sich nach ihrer größtenteils brot-, also verdienstlosen Arbeit im Laden (Amazon!) noch als Flaschensammlerin betätigt, von einem Taxifahrer oder einer Fahrradbotin.

Und am Ende noch kurz von einer BSR-Angestellten, die nach einer langen Kreuzberger Nacht mit ihrem Kehrfahrzeug in aller Frühe die Straße saubermacht: „Rund um den Burger King Ecke Falckenstein ist mal wieder alles zugesaut. Pappbecher, Essensverpackungen, Erbrochenes. Neben der Ampel ein Mülleimer mit aufgetretener Bodenklappe. Auch die Gehwege sind stark verschmutzt. Man sieht, dass gestern schönes Wetter war.“

Hier ein Taxifahrer, dort eine Späti-Besitzerin

Es ist eine andere Zeit, halt Prä-Corona-Zeit, in der Kreuzberg verschmutzt und die ganze Nacht gefeiert wurde, und so gibt es in diesem vielstimmigen Roman noch viele andere Figuren, die ihre Arbeit erledigen, wenn andere Parties feiern, Leute, die das Nachtleben erst möglich machen. Auch irgendwie Helden, wenn man so will, alte Helden sozusagen: Türsteher, Hostel-Betreiber und Drogendealer.

Nagelschmidt hat seinen Roman in zwei große Teile mit jeweils zehn Kapiteln gegliedert. Fast jedes erzählt von einem anderen dieser vielen unscheinbaren, vielfach zufällig miteinander verbundenen oder sich begegnenden Dienstleistern und Dienstleisterinnen, die hier auf der „Arbeit“–Erzählebene einen Abend und eine Nacht ihren Tätigkeiten nachgehen.

Der einzige, der mehrere Auftritte hat, ist Heinz-Georg Bederitzky. Dieser steuert sein Mercedes-Taxi wie einen roten Faden durch den Roman. Erst durch Berlin, dann geht es nach Halle an der Saale, „eine Überlandfahrt, das ist wie Wandertag früher in der Schule, Sechser im Lotto, gibt’s nur alle Jubeljahre mal.“

Bederitzky, in der DDR aufgewachsen, ist eine arme Haut, eine unglamouröse, unspektakuläre Existenz. Er ist Mitte fünfzig und war eine Zeit lang beim Radio, beim MDR, ausgerechnet in Halle, wo er es aber nicht mehr aushielt. Danach jobbte er in Call-Centern oder bezog Arbeitslosenhilfe.

Jetzt fährt er Taxi und komponiert Musik, von Pink Floyd inspirierten Progrock, den er seinen Fahrgästen als Blind Date vorspielt, um deren Reaktion zu testen. Immerhin scheint Bederitzky die Liebe seines Lebens noch gefunden zu haben. Es ist die Kreuzberger Späti-Betreiberin Anna von Bassenheim. Sie hatte die Schnauze voll von ihrer Arbeit in einer Agentur und hat sich mit dem Laden selbstständig gemacht: „Ein Späti, ausgerechnet sie, die Kreative, die Studierte, die Tochter aus gutem Hause?“

Nagelschmidt besitzt viel Szene-Kenntnis

Auch sie kommt nicht gut klar mit ihrem Leben, leidet unter Schlafstörungen, hat psychische Probleme und wird schließlich von einem Kapuzenpulloverteenie in ihrem Laden überfallen. „Du bist Teil des riesigen Lebensorchesters“ steht auf dem Teebeutel, den sie einmal in eine Tasse heißes Wasser fallen lässt, „Geschmacksrichtung Grüne Harmonie“.

Von diesen vielen unscheinbaren Lebensorchestermitgliedern, die nicht unbedingt zu den Hauptfiguren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehören, erzählt Thorsten Nagelschmidt mit viel Hingabe, Szenekenntnis und Sprachvermögen.

Ob es zuhause bei Felix ist, dem Dealer, der selbst nicht mehr feiern geht, keine Drogen mehr nimmt, die Bude wegen seiner „Tickerei“ aber immer voll hat; ob es die beiden Jungs sind, der eine aus einer libanesischen Großfamilie stammend, die in Neukölln bei einem pädophil veranlagten Verwaltungsangestellten Grand Theft Auto spielen.

Oder ob es Hauptkommissar Thomas Schüngelmann ist, der seiner jungen Kollegin Christina ständig in den Ohren liegt und ihr die Polizeiwelt erklärt („Wir gurken hier schön gemütlich durch die Gegend und holen dem Bürger die Katze vom Baum“) – Nagelschmidt gelingt es fast immer, für jede seiner Figuren einen eigenen Ton zu finden, ihre Gedanken mitzulesen, ihr Lebensgestrampel zu individualisieren und dabei ein Wimmelbild der Gesellschaft zu zeichnen. In diesem Fall bevorzugt der Kreuzberger Gesellschaft.

Tuxedomoon und Rainald Goetz stehen Pate

Zweimal lässt er sich dabei gleich ganz auf den Grund seines Romans schauen, auf dessen Anlage. Da hat man bei dem Monolog des aus Guinea stammenden Drogendealers im Görlitzer Park den Eindruck, dass es der Autor selbst ist, der mit dem jungen Mann auf einer Bank sitzt und sich für fünfzig Euro dessen Lebensgeschichte erzählen lässt.

Auch gegen Ende, als einer der Helden dieses Romans plötzlich die Ich-Perspektive einnimmt, der Lobotomy-Club-Türsteher mit mozambikanischem Hintergrund, wirkt es, als würde dieser Thorsten Nagelschmidt direkt ansprechen: „Mein Name ist Ten, und ich arbeite an der Tür, weißt du ja beides schon.“

Ten erinnert mit seiner Vita von fern an den Türsteher, den die Journalistin Jana Simon vor zwei Jahrzehnten in ihrem Buch „Denn wir sind anders“ porträtiert hat.

Und überhaupt hat es Gesellschafts- und Berlin-Romane wie „Arbeit“ schon den einen oder anderen gegeben, man denke nur an Norbert Zähringers Debütroman „So“, der ebenfalls von kleinen, vielfach vom Schicksal gebeutelten Menschen erzählt. Nagelschmidt ist jedoch ganz im Hier und Jetzt zuhause, mitten in der Gegenwart, der neoliberalen Dienstleistungsmoderne. 

1976 in Rheine geboren, hat er nicht nur bereits diverse Romane geschrieben, zuletzt den Neunzigerjahre-Entwicklungsroman „Der Abfall der Herzen“, sondern er war auch der Sänger, Texter und Gitarrist der (inzwischen wiedervereinigten) deutschen Alternative-Rock Band Muff Potter.

Als solcher kennt er selbstredend das Gesamtwerk des Gegenwartsfetischisten Rainald Goetz, nimmt dieses in Person seiner Buchhändlerin Ingrid köstlich auseinander, insbesondere die Club-Erzählung „Rave“ („Auf Buchlänge aufgeblähte Authentizitätspoesie, im Grunde unlesbar“), leiht sich aber auch eines seiner Mottos von Goetz: „Don’t cry - work“.

Das andere stammt von der Band Tuxedomoon, „No tears for the creatures of the night“, ein Song, den man während der gesamten Lektüre im Kopf hat. „My eyes are dry, goodbye“ heißt es darin, und dieser Pragmatismus passt perfekt. Die Menschen, die in unserer postheroischen, nichtsdestotrotz nach Helden gierenden Gegenwart gerade als solche gefeiert werden, dürften nach der Corona-Krise bald wieder vergessen sein. Thorsten Nagelschmidt jedoch hat ihnen mit seinem großartigen Roman ein kleines Denkmal gesetzt.

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