Hans Otto Theater Potsdam: Theater findet Stadt
Getragen vom Ensemblegeist: Wie Schauspielintendant Tobias Wellemeyer mit dem Potsdamer Hans Otto Theater identitätsstiftend für die brandenburgische Landeshauptstadt wirken will.
Genau genommen hat das Potsdamer Hans-Otto-Theater zwei Schokoladenseiten. Da ist zum einen das berühmte rote Dach, wild gezackt und knallfarbig angestrichen, das sich über dem 2006 eröffneten Neubau des Architekten Gottfried Böhm aufspannt. Ein Hingucker in exponierter Lage, direkt am Ufer des Tiefen Sees. Drinnen bieten alle 485 Plätze des Saales viel Beinfreiheit und beste Bühnensicht, vom Foyer aus schweift der Blick durch hohe Glaswände hinüber zum herrlichen Babelsberger Schlosspark.
Kurz hinter der Glienicker Brücke, in der Berliner Vorstadt, liegt linker Hand das „Erlebnisquartier Schiffbauergasse“, auf dem sich neben dem Hans-Otto-Theater auch ein Fluxus-Museum und diverse Spielstätten der freien Szene befinden. Das Softwareunternehmen Oracle hat hier seinen Sitz, ebenso wie das VW Design Center, in einer alten Zichorienmühle ist ein italienisches Restaurant untergebracht. Seit Neuestem ankert am Ufer ein Off-Theater-Schiff.
Wer sich Zeit nimmt, übers Gelände streift, entdeckt bald auch die zweite Schokoladenseite des Theaterbaus: einen großen kreisrunden Hof, über dem sich eine vielfenstrige Fassade beeindruckend in die Höhe reckt. Weil ein alter Gasometer nach Meinung der Denkmalbehörde unbedingt erhaltenswert war, machte Architekt Böhm dessen funktionslos gewordene Metallhülle einfach zum Teil seines Entwurfs. Großstädtisch wirkt dieser Gebäudeteil, kühl und klar gegliedert, ja fast modernistisch-streng im Vergleich zum verspielten Seeseiten-Dach.
Hier sind auf fünf Etagen die Büros und Werkstätten des Theaters untergebracht, unten im Gasometer-Rund werden normalerweise Fahrzeuge abgestellt. Außer im Sommer: Dann nämlich verwandelt sich der Park- in einen Spielplatz, dann wird hier Theater gemacht. Da man von der Hinterbühne direkt in den Hof hinaustreten kann, drängte sich der Ort für Open-Air-Inszenierungen geradezu auf. Aktuell läuft die Stripper-Komödie „Ladies Night“.
Viele Jahrzehnte wurde um den Theater-Neubau gekämpft
Fast sechzig Jahre hat das Ringen um Potsdams Schauspielhaus gedauert. Nachdem das alte Stadttheater im Krieg ausgebrannt war, wurde eine Tanzgaststätte am Rande des Sanssouci-Parks zur Behelfsbühne umgebaut. Zu schmal und lang war der Saal in der Zimmerstraße, die Atmosphäre glich der eines Vorstadtkinos. Doch als es endlich ein Ende haben sollte mit dem Dauerprovisorium, als der Rohbau eines repräsentativen Hauses bereit Kontur annahm, fiel die Mauer – und der Standort schien unter den neuen Verhältnissen nun nicht mehr opportun. Weil das nach Hans Otto, einem kommunistischen, 1933 von den Nazis ermordeten Schauspieler benannte Theater genau dort stehen sollte, wo die DDR einst die Reste des Stadtschlosses gesprengt hatte. Das halb fertige Theater wurde also wieder abgerissen, um den Bauplatz für eine Kopie der Königsresidenz frei zu machen. Weil aber fast gleichzeitig die Baupolizei die marode alte Bühne dichtmachte, begann für das Ensemble eine Leidenszeit in der so genannten Blechbüchse, einer hässlichen, für den Verkehr draußen auf der Langen Brücke äußerst hellhörigen Metallhalle.
Während noch über den Ausweichstandort diskutiert wurde, dezimierte in den neunziger Jahren eine Sparrunde nach der anderen die Beschäftigtenzahl des städtischen Theaters. Als dann vor acht Jahren endlich der Böhm-Bau an der Schiffbauergasse eingeweiht werden konnte, war die Bühne der Landeshauptstadt vom Drei-Sparten-Haus zu einem reinen Sprechtheater geschrumpft. Oper gibt es jetzt nur noch als Gastspiel aus Cottbus oder – in Kooperation mit der Kammerakademie Potsdam, der klein besetzten Nachfolgerin des abgewickelten städtischen Orchesters – als winterliches Sonderprojekt im friderizianischen Rokoko-Theater des Neuen Palais.
Schnell vermochte der damalige Intendant Uwe-Eric Lauffenberg 2006 die erste Neugier der Potsdamer auf das spektakuläre Haus mit einem dem Publikum zugewandten Spielplan in dauerhafte Liebe umzuwandeln. Sein 2009 angetretener Nachfolger Tobias Wellemeyer dagegen eckte mit seinem radikaleren Stil zunächst an. Mittlerweile aber haben Zuschauer wie Lokalpolitiker verstanden, was der leidenschaftliche Theatermacher meint, wenn er davon spricht, dass er am Selbstfindungsprozess der Stadt mitarbeiten will.
Identitätsstiftend in Potsdam zu wirken, das bedeutet für Wellemeyer, real existierende Kontraste zu zeigen jenseits der touristischen Postkartenidylle des preußischen Arkadien. Das Wohlstandsgefälle zwischen den Villenvierteln und den Plattenbau-Siedlungen, die unterschiedlichen Lebensrealitäten von Zugezogenen und gelernten DDR-Bürgern. Die gelungene Bühnenfassung von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, die John von Düffel erstellt und Wellmeyer im November 2010 inszeniert hat, zeigte exemplarisch, wie sich die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte in bewegenden Bildern manifestieren kann. Sie wird auch in der kommenden Saison weiter auf dem Spielplan stehen.
John von Düffel, im Hauptberuf Dramaturg am Deutschen Theaters Berlin, ist zu einer Art Hausautor geworden. Mit seinem Stück „Das permanente Wanken und Schwanken von eigentlich allem“ präsentiert das Hans-Otto-Theater in der kommenden Saison wieder eine Uraufführung des in Potsdam lebenden Schriftstellers. Tobias Wellemeyer bringt zudem Leo Tolstois letzten Roman „Auferstehung“ auf die Bühne, ein Buch von moralischer Wucht, in dem es um einen Großgrundbesitzer geht, der einen Großteil seines Besitzes an die Bauern verschenkt.
Um die Frage, wie weit ein Mensch für seine politischen Überzeugungen gehen darf, geht es in „Zorn“, einem neuen Stück der Australierin Joanna Murray- Smith. Daneben werden Klassiker wie „Hamlet“ oder „Geschichten aus dem Wiener Wald“ neu befragt, als Musical gibt es „La Cage aux Folles“, als Sommerstück eine Goldoni-Komödie.
Und es werden 2014/15 allein sechs Neuproduktionen für Menschen unter 18 entstehen. Fast die Hälfte aller Vorstellungen des Hans-Otto-Theaters richten sich an Kinder und Jugendliche, es gibt moderne Märchen und Stücke übers Erwachsenwerden ab 6, 9 oder 13 Jahren – und mit der liebevoll renovierten, neoklassizistischen „Reithalle“ sogar eine eigene Spielstätte für die jungen Besucher.
Getragen wird das Mammutprogramm von einem 25-köpfigen Schauspielerteam, einer eingeschworenen Truppe, die sich bis zur Erschöpfung verausgabt. In Potsdam ist er noch zu erleben, der Ensemblegeist, den viele Zuschauer inzwischen in Berlin vermissen. Die Hauptstadt-Bühnen prunken mit Stars, die auch in Kino und Fernsehen präsent sind. In Potsdam dagegen kann man Persönlichkeiten über Jahre wachsen sehen, trifft „seine“ Darsteller auch auf der Straße, ist gespannt darauf, wie diese und jener wohl diese und jene Rolle meistern wird.
Für das Vorschauheft der kommenden Saison sollten alle Potsdamer Schauspieler jeweils auf ihre Art einen Satz vollenden, der mit den Worten „Wenn ich spiele ...“ beginnt. Unter dem Foto von René Schwittay ist zu lesen: „... dann nehme ich eine Schaufel, einen Eimer und Förmchen und baue mit anderen zusammen eine Sandburg. Wenn sie fertig ist, wird sie vom Meer hinweggespült – und wir fangen wieder von Neuem an.“
Bis 7. Juli wird im Gasometer-Hof „Ladies Night“ gespielt, am 12./13. Juli wird im Erlebnisquartier das Fest „Stadt für eine Nacht“ gefeiert. Weitere Infos zur Saison 2014/15: www.hansottotheater.de
Frederik Hanssen