Kultur: „Zur Kunst gehört auch das Scheitern“
Tobias Wellemeyer über Besucherzahlen, Eintagsfliegen, Zuschauerbrücken und die Repolitisierung des Theaters
Herr Wellemeyer, Sie beklagten auf der kürzlich stattgefundenen Pressekonferenz zur neuen Spielzeit eine Unterfinanzierung Ihres Hauses. Die Zahlen besagen jedoch, dass die Zuschüsse der Stadt leicht gestiegen sind.
Die Zuschüsse sind deshalb ein bisschen höher, weil sich die Tarifverträge in ganz Deutschland verändert haben. Dass wir als Arbeitgeber diese Tarifaufwüchse zahlen müssen, ist ein ganz normaler Vorgang. Es ist kein Mehr, sondern nur eine reguläre Situation.
Warum besteht dennoch ein Fehlbedarf?
Potsdam gehört nicht zu den reichen Theatern in der Bundesrepublik, was Zuschüsse betrifft, und hat auf der anderen Seite eine Vielzahl von Aufgaben. Einen hohen Stellenwert besitzt bei uns das Kinder- und Jugendtheater, das fast die Hälfte unserer täglichen Arbeitskraft in Anspruch nimmt. Doch man verdient an zwei vollen Sälen mit Kindern genauso viel wie an einem halbvollen Saal mit Erwachsenen. Zudem müssen wir die sehr verschiedenen Erwartungshaltungen unseres Publikums, auch aus Berlin, abdecken. Und jede einfache Holzwand kostet heute doppelt soviel wie vor zehn Jahren, um nur ein Detail zu nennen. Ganz abgesehen davon, dass viele Kollegen eine sehr niedrige Gage erhalten und wir ihnen entsprechend ihrer Leistungsentwicklung gern etwas dazu geben würden. Außerdem möchten wir uns gern auch mal Gastkünstler leisten, was einfach mehr kostet.
Sie beziffern das strukturelle Defizit auf 300 000 bis 400 000 Euro.
Das ist eine geschätzte Summe, die sich ergibt, wenn wir unsere laufenden Sparanstrengungen in Sachen Ausstattungen, Gagen, Werbung, Technik und Betrieb zusammenrechnen. Natürlich müssen wir versuchen, zugleich unsere Einnahmesituation zu verbessern, indem wir mehr Karten verkaufen oder aber sie teurer machen.
Was Sie kürzlich noch ausgeschlossen haben.
Das will ich auch weiterhin. Denn wenn wir hören, welches Sparpaket in Berlin von der Regierung beschlossen wird, müssen wir Sorge haben, dass sich das auf das kulturelle Verhalten der Menschen niederschlägt.
Sie plädieren auch für eine verstärkte Vermietung des Hauses.
Wir müssen genau aufpassen, was wir anbieten, um nicht zu einem „Kaufhaus“ zu werden. Aber die leichte Muse, das Musical, wäre als Ergänzung sehr gut vorstellbar.
Nach wie vor hört man von Potsdamern, dass sie sich vom Theater abgewandt haben, weil sie von Vorstellungen enttäuscht waren. Gibt es inzwischen wieder ein stärkeres Aufeinanderzugehen?
Mit seinen Zuschauerzahlen steht das Hans Otto Theater, gemessen an der Stadtgröße, richtig gut da. Besser als Leipzig oder Magdeburg. Das ist eine wichtige Botschaft. Es ist einfach nicht wahr, dass es immer schlechter wird. Zum anderen kann es mich nicht befriedigen, wenn wir die Zuschauerzahlen auf dem Niveau halten, wie es zuletzt auch unter meinem Vorgänger Uwe Eric Laufenberg war. Ich will mehr! Es kann natürlich sein, dass Leute ihre Anrechte aufgeben und sich lieber vorher beraten, um zielgerichtet in Vorstellungen zu gehen. Das sehen wir dann im Oktober, wenn die Anrechte verkauft werden. Ein gewisser Austausch findet in jedem Jahr ganz organisch statt. Der eine oder andere bleibt weg, dafür kommen andere hinzu. Ein Wechsel am Theater bringt auch Wechseldynamiken im Publikum mit sich, das sind normale Vorgänge, die von Hannover bis Dresden beschrieben werden. Wichtig ist eine kontinuierliche Betreuung, so dass wieder neues Vertrauen entsteht.
Greifen Sie als oberster künstlerischer Anwalt auch in Inszenierungen Ihrer Regiekollegen ein?
Der Dramaturg ist ständig bei den Proben dabei, um strukturierend mitzuarbeiten. Ich gehe meist in die Endproben. Dort erstreiten wir uns oft sehr hart Positionen. Das ist eine schwierige Politik, denn Regisseure sind Künstler; ihre subjektiven Visionen und Handschriften sind ihr Arbeitszeug. Aber es braucht manchmal die Korrektur, um Spannungsbögen, Vorgänge und Musikalität zu schaffen. Ich schätze keine Bevormundung. Manchmal sage ich aber auch: Das funktioniert nicht gut. Dennoch spielen wir die Inszenierung und der Kollege muss sich mit den Reaktionen auf den Abend auseinandersetzen. Die können sich im Übrigen durchaus unterscheiden von meinen Erwartungen vor der Premiere.
Aber sind Sie nicht auch Anwalt des Publikums?
Ja, sehr. Aber es gibt nicht das Publikum. Ich denke, wir müssen Stoffe und Visionen auf den Punkt bringen. Dafür setze ich mich ein und damit auch für die Position des Publikums. Zur Kunst gehört aber auch der Raum für den Versuch und damit für ein Scheitern, ohne dass der Daumen gleich nach unten zeigt. Wie ein Versuch scheitert und warum, das kann ebenso anregend und sinnlich sein wie ein augenscheinlich stimmiges Gelingen.
Wie wollen Sie es erreichen, dass gerade das von Ihnen am meisten vermisste Publikum zwischen 18 und 40 Jahren ins Theater kommt?
Wir versuchen es, in dem wir Brücken bauen, wie durch die Schauspiel-Angebote in der Reithalle und den dortigen „nachtboulevard“.
Gerade im „nachtboulevard“ sind ausschließlich „Eintagsfliegen“ zu erleben. Wenn etwas begeistert, wie kürzlich der Chansonabend von Franziska Melzer, ist er nicht für einen größeren Interessentenkreis als „Nachlese“ verfügbar. Wollen Sie daran etwas ändern?
Sie haben recht. Vielleicht sollten wir die besten Abende wiederholen. Andererseits entsteht etwas Leichtes, Improvisiertes, wenn es nur auf die Nacht Gedachtes ist. Man muss die Dinge auch wachsen lassen. Wir haben aber bereits erreicht, dass die Reithalle, die zuvor nur auf Junges Theater ausgerichtet war, jetzt eine ausgewachsene Spielstätte mit einem eigenen Klubformat ist. Die Leute, die dort hinkommen – mal sind es 100, mal vielleicht auch nur 15 – sind für uns wichtige Multiplikatoren. Die Idee, dort Generationen zusammenzuführen, funktioniert indes leider nur bedingt. Ältere Leute übertreten die Schwelle noch selten.
Gibt es in der neuen Saison Veränderungen in Ihrem Team?
Es kommen neue Regie-Handschriften dazu. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben eines Theaters, dass man unterwegs ist und nach Talenten Ausschau hält. Ich steige oft in die Bahn, schaue abends Theater und bin früh wieder zurück. So habe ich auch Barbara Bürk entdeckt, die jetzt für uns die Saga „Eine Familie“ inszeniert. Obwohl ich diesen tollen Stoff am liebsten selbst übernehmen würde. Aber man kann ja nicht alles machen.
Sie haben ja sicher auch mit dem 1000-seitigen „Turm“ von Uwe Tellkamp erst einmal genug zu tun, den Sie im November auf die Bühne bringen wollen.
Diesen magisch ausgeleuchteten Roman über die letzten Jahre in der DDR kann man nicht auf die Bühne bringen. Aber in der Fassung von John von Düffel, die wir zeigen werden, wird eine spezielle Linie herausgegriffen. Wir sind gerade mit Ausstatter Alex Wolf dabei, einen Bühnenraum dafür zu erfinden mit einer sehr speziellen schlagenden Idee. Welche – verrate ich noch nicht. Die Inszenierung soll jedenfalls nichts rückwärts Gewandtes bekommen und es soll auch nicht in DDR-Codes nur für Eingeweihte gesprochen werden. Auch eine 17-Jährige aus Niedersachsen soll es verstehen. Auf jeden Fall könnte diese in Dresden angesiedelte Geschichte auch in Leipzig, Potsdam oder anderswo spielen.
Und wäre damit auch verbundtauglich. Denn nach wie vor zeigt Potsdam ja in Frankfurt (Oder) und Brandenburg einige seiner Aufführungen. Mit welchem Erfolg?
Mit sehr mäßigem, was die Auslastungen betrifft. Deshalb stellen wir das Konzept zur Zeit kritisch auf den Prüfstand. Denn in den Theatern, wo es kein Ensemble, keine Dramaturgie, keine Öffentlichkeitsarbeit, keine Freundeskreise, also keine Vermittlungsleistung mehr gibt, kommen auch nur wenige Zuschauer. Das liegt nicht daran, dass die Menschen plötzlich desinteressiert sind. Sie werden einfach nicht abgeholt. Kultur bedarf der Vermittlung. Und das muss in den Orten passieren, wo Kultur stattfindet. Darüber werden wir Anfang September mit allen Verbundpartnern in einem Workshop diskutieren.
Wo wird sich das Theater in Zukunft hinbewegen. Welche Sprache wird es finden, die aus der gesellschaftlichen Sprachlosigkeit hinausführt?
Über dieses Thema wird schon seit 20 Jahren vehement gestritten. Damals entschieden sich viele Regisseure für die ironisch-intellektuelle Dekonstruktion, vielleicht um sich in den Übergangsjahren vor Gefühlen zu schützen. An der Volksbühne wurde dabei kraftvoll avantgardistisch gearbeitet; ihre Leistungen wurden von anderen übernommen, manchmal epigonal nachgeahmt. Inzwischen gibt es wieder eine Sehnsucht nach anderen Formen, nach Verbindlichkeit und Engagement in sozialen Zusammenhängen. Und auch eine Rückkehr von Empathie und Mitleidensvermögen, was lange als „Sozialkitsch“ gegeißelt wurde, ist wieder zu beobachten, was ich sehr begrüße. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun.
Zuschauer möchten auf der Bühne Menschen sehen, mit ihnen fühlen, leiden, lachen, sich an ihnen reiben, Antworten finden.
So verstehe auch ich Theater. Wir leben in einer Zeit der Krisen. So wie das Feuilleton auf der Suche nach neuen Maßstäben des Beschreibens und Bewertens ist, suchen auch die Künste und das Theater nach einem neuen Gestus. Wir sind selbst auf der Suche nach neuen Bewegungsrichtungen, einer neuen sozialen Aufmerksamkeit. Ich konnte Ende der 80-er Jahre dabei sein, wie am Dresdner Theater in den Arbeiten von Wolfgang Engel das Denken politisch konkret wurde. Die Welt war nach den zwei Stunden Theater eine andere. Ich weiß, dass Kunst und Literatur die Realität verändern können, auch wenn das in der heutigen Situation von globalisierter Marktwirtschaft und Individualismus schwieriger ist. Aber es soll niemand sagen: Das ist vorbei. Das Theater wurde in seiner 2500-jährigen Geschichte schon so oft totgesagt. Ich glaube indes an die Repolitisierung des Theaters und auch daran, dass wir aus der Ironie herauskommen und uns wieder angreifbarer machen.
Was bestärkt Sie darin?
Ich war kürzlich auf einer Konferenz der Intendanten. Dort wurde leidenschaftlich über die Zukunft des Theaters diskutiert. Barbara Mundel aus Freiburg rief dazu auf, aus dem „Theater der Nacht“ – eine Formulierung des Autors Thomas Oberender in seinem wunderbaren Theaterbuch „Leben auf Probe“ – ein „Theater des Tages“ werden zu lassen, das sich moderierend mit den sozialen Prozessen der Stadt beschäftigt. Sewan Latchinian vom Neuen Theater Senftenberg rief dazu auf, die poetische und gestaltende Kraft von Kunst zu verteidigen. Eine Polarisierung ist eine Chance zur gedanklichen Zuspitzung, muss aber nicht zum Entweder-Oder führen. Künstler sind passionierte Kämpfer und streiten mit Leidenschaft für ihre Interpretationen. Ich fände es bereichernd, verschiedene Optionen nebeneinander zu denken.
Das Gespräch führte Heidi Jäger
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