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Theaterkritik: Uwe Tellkamp: Der Turm

Dunstzone DDR: Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" als furioses Bühnenstück in Potsdam zieht die Leser in seinen Bahn.

Wer die ersten 150 Seiten geschafft hat, ist diesem Roman verfallen, der tritt ein in die fremde, faszinierende Kunstwelt des „Weißen Hirschen“, jenem verfallenden Villenvorort am Elbhang, in den sich die Dresdner Akademiker vor den Zumutungen der DDR geflüchtet hatten. Hier pflegten sie ihre rückwärtsgewandten Rituale, feierten Vorkriegszeit und Romantik, hielten inmitten der Mangelwirtschaft an bildungsbürgerlichen Geselligkeitskonventionen fest, um sich wenigstens gedanklich abzuschotten gegen die Spießer an der Macht.

Uwe Tellkamps 972-Seiten-Band über die sieben letzten Jahre des real existierenden Sozialismus lebt von der überbordenden, raunenden Sprache seines Autors, von exzentrischer Metaphorik und goldschmiedemeisterlicher Satzbaukunst. Wer dieses Epos auf die Bühne bringen will, muss vor allem eines können: weglassen. John von Düffel hat für seine Theaterfassung des „Turm“ die Geschichte des Arztsohnes Christian herauspräpariert, die Lehr- und Wanderjahre eines sensiblen Jungen aus gutem Hause.

Nach Dresden und Wiesbaden zeigt das Potsdamer Hans Otto Theater bereits die dritte Adaption des Romans. In drei Stunden fügen sich unzählige kurze Szenen dabei nicht allein zu einer packenden Erzählung vom Erwachsenwerden zusammen, sondern eben auch zu einem Panorama der bleiernen Vorwendezeit. Keine private Entscheidung fällt hier ohne staatliche Einmischung. Wo jeder seines Nächsten Denunziant sein könnte, sind nicht einmal die Gedanken frei, das ruft Tobias Wellemeyers Inszenierung gerade den Westlern im Publikum ins Gedächtnis.

Der Potsdamer Intendant, 1961 in Dresden geboren, entscheidet sich für klares, gradliniges Erzähltheater. So, wie sich John von Düffel entschlossen hatte, den Duktus der Romanvorlage weitgehend aufzugeben, um die verschlungene Handlung in bühnentaugliche Dialoge auflösen zu können.

Weil im Hans Otto Theater eine 20-köpfige Schauspielertruppe am Werk ist, die aus den fein ziselierten literarischen Figuren tatsächlich einen Haufen höchst lebendiger Menschen machen kann, nimmt man selbst als Verehrer des Romans dafür gerne den Verlust der Tellkampschen Sprachraffinesse in Kauf. Sicher, der Buchtitel wirkt in dieser Version nur noch als Marketingtool, denn die „Türmer“, also die Dresdner Weltflüchter, treten hier ganz in den Hintergrund. Andererseits haben durch die Fokussierung auf die zeitgeschichtliche Komponente auch jene Zuschauer eine Chance auf Erkenntnisgewinn, die den Wälzer (noch) nicht gelesen haben.

„Monte Christo“ wird Christian, der Exot aus der Elbhanglage, von seinen Mitschülern im Internat gerufen. „Nemo“, Niemand, nennt er sich später selber, als NVA und Stasi mit aller Macht versuchen, ihm das Rückgrat zu brechen. Holger Bülow setzt den emotionalen Schlingerkurs des schmerzhaft seinem Milieu-Kokon entwachsenden Helden körperlich um, stakst durch den blätterlosen Wald, den Alexander Wolf auf die Bühne gepflanzt hat. Unvermittelt tauchen seine Lebensabschnittsgefährten aus dem stockfinsteren Hintergrund der kahlen Szenerie auf, um sich ebenso schnell wieder von der ewigen Nacht verschlucken zu lassen.

In Christians Welt herrscht Dauerdunst. Ist es Taufeuchte, die aus dem Fluss aufsteigt? Sind es giftige Gaswolken aus dem Chemiekombinat von Leuna? Oder doch die Nebelkerzen der Parteifunktionäre? Ein großer Roman ist in Potsdam zu einem großen Theaterabend geworden, der mehr über die Gründe des Volksaufstands von 1989 erzählt als die meisten Fernsehdokumentationen zum 20. Mauerfalljubiläum. Und der gleichzeitig – gegen alle aktuellen Schauspielmoden - mit berührendem Engagement die kathartische Kraft der traditionellen Bühnenkunst verteidigt.

Wieder am 4., 11., 12. und 27. Dezember sowie 8., 9. Januar.

Frederik Hanssen

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