Graphic Novel: Tauchgang mit Geistern
Der kanadische Comic-Aufsteiger Jeff Lemire („Animal Man“, „Sweet Tooth“) schwimmt derzeit in vielen Gewässern. Mit „The Underwater Welder“ ist einer der besten und beliebtesten Autoren des großen DC-Relaunchs nun mit einer neuen Graphic Novel aufgetaucht.
Fast vier Jahre hat Jeff Lemire zwischen all seinen anderen Projekten an seiner neuen Graphic Novel „The Underwater Welder“ gearbeitet. Dafür ist der gut 220 Seiten starke Comic-Roman des Kanadiers, der kürzlich als schön aufgemachte Klappenbroschur beim US-Verlag TopShelf veröffentlicht wurde, wieder einmal richtig gut geworden.
Dass Lemire für „The Underwater Welder“ so verhältnismäßig lange gebraucht hat, liegt natürlich daran, dass Lemire als einer der neuen Superstars des amerikanischen Superhelden-Mainstreams seit geraumer Zeit auf teuflisch vielen Hochzeiten bei Supermans und Batmans Heimatverlag DC tanzt und auch ohne anspruchsvolle Graphic Novels einen immensen Output hat. Vor dem großen DC-Relaunch legte er etwa eine brillante Strecke an „Superboy“ hin, während er parallel seine Vertigo-Endzeit-Serie „Sweet Tooth“ vorantrieb. Mit dem Reboot durch die New 52 wurde Lemire dann Autor von „Animal Man“, den ersten Heften von „Frankenstein, Agent of S.H.A.D.E.“ und mittlerweile auch noch „Justice League Dark“. Dazwischen war auch noch Zeit für u. a. eine Batman-Kurzgeschichte im neuen, zunächst digital erscheinenden Format „Batman: Legends of the Dark Knight“. Schwer beschäftigt also, der gute Mr. Lemire – und dabei immer überzeugend.
Irrsinniges Pensum
Lemires Vielseitigkeit ist seine große Stärke, und man muss einfach darauf hoffen, dass sie sich bei seinem irrsinnigen Pensum nicht zu schnell abnutzt. Denn wie er in „Superboy“ das volle Paket an Wohlfühl-Superhelden-Kost ablieferte, in „Animal Man“ seit dem ersten Kapitel einen fantastischen modernen Horror inszeniert und in „Justice League Dark“ okkulte Figuren wie Hellblazer John Constantine, Zatanna und Deadman mit altgedienten Vertigo-Stoffen wie den Büchern der Magie, Black Orchid oder Timothy Hunter verbindet, das ist wahrlich großes Kino und jedes Mal von Neuem ganz schön beeindruckend.
Noch beeindruckender wird es jedoch, wenn man sich den „anderen Jeff Lemire“ anschaut. Den Jeff Lemire, der abseits von Helden und Horror überragend schreibt und zeichnet, mit unverkennbarem Ton und unverkennbaren Stil. Der schon vor seinen Arbeiten für DC und Vertigo herausragende Comic-Geschichten geschaffen hat, egal ob mit seinem kürzlich neu aufgelegtem Frühwerk „Lost Dogs“ oder seinem magisch-realistischen Meisterwerk „Essex County – Geschichten vom Land“. Hier wird der exzellente Superhelden-Autor und Endzeit-Spaziergänger zu einem jungen kanadischen Will Eisner, einem Meister der Graphic Novel. So, wie in „The Underwater Welder“.
Willkommen in der Twilight Zone
Damon Lindeloff, Mitschöpfer des TV-Hits „Lost“, hat vollkommen Recht, wenn er Lemires „The Underwater Welder“ in seinem Vorwort eine unübersehbare Nähe zu den besten „Twilight Zone“-Episoden attestiert. Aber Lemires übernatürliche Geschichte um den kanadischen Unterwasser-Schweißer Jack, der bald selbst Vater wird und vor allem an Halloween vom Geist seines vor über 20 Jahren eben just an diesem Tag verschwundenen, buchstäblich nicht mehr aufgetauchten Dads heimgesucht wird, ist noch mehr.
Ein meisterhaft erzählter und gezeichneter Comic über Abschied und Ankunft – über das Zurückschauen und das Nachvorneblicken. Über Geister und wie sie durch unser Leben spuken können, bis wir uns vor lauter Gespenstern verirren und den Weg zurück in die Realität aus dem Blick verlieren. Über Väter und Söhne. Und nicht zuletzt ein Beleg dafür, dass Jeff Lemire auch in Zukunft hoffentlich immer wieder mal abseits seiner bestechenden Arbeiten innerhalb des neuen DC-Universums mit einem eigenständigen Comic-Juwel wie „The Underwater Welder“ auftaucht. Egal wie lange es zwischen den einzelnen Tauchgängen dauert.
Jeff Lemire: The Underwater Welder, Top Shelf, 224 Seiten, ca. 15 Euro. Eine deutsche Ausgabe gibt es noch nicht.
Weitere Tagesspiegel-Artikel über Jeff Lemire stehen hier. Mehr Artikel unseres Autors Christian Endres stehen hier. Und sein Blog findet sich hier: www.christianendres.de.
Christian Endres
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