Graphic Novel: Aus der Bahn geworfen
Mit der jetzt auf Deutsch veröffentlichten Erzählung „Geistergeschichten“ erweist sich das nordamerikanische Multitalent Jeff Lemire erneut als Meister des kunstvollen Comic-Dramas.
Jeff Lemire ist das Wunderkind der amerikanischen Comicszene. Wer in diesen Wochen in den USA oder in Kanada in einen Comicladen geht, findet den Namen des 35-Jährigen gleich auf einer Handvoll Cover im Regal mit den aktuellen Mainstream-Serien: „Animal Man“, „Frankenstein“ und „Superboy“ (als Autor), „Jonah Hex“ (als Zeichner), „Sweet Tooth“ (Schöpfer der Serie sowie Autor und Zeichner), außerdem stammt eine anrührend-bizarre Alien-Geschichte in dem Ende Mai erschienenen Sammelband „Strange Adventures“ von ihm.
Was den in Toronto lebenden Autor und Zeichner so besonders macht, wird allerdings besonders deutlich, wenn man sich seine früheren Werke anschaut, die jetzt nach und nach auf Deutsch erscheinen. Gerade hat der Verlag Edition 52 den zweiten Band von Lemires autobiografisch inspirierter Essex-County-Trilogie veröffentlicht, die Brüder-Tragödie „Geistergeschichten“.
Dieser Band illustriert noch deutlicher als das Vorgängerbuch „Geschichten vom Land“ – das demnächst übrigens unter dem Titel „Super Zero“ verfilmt werden soll – die große Stärke Lemires: sensible Charakterzeichnungen, stille Tragödien, bewegende Plots. Und dazu ein Zeichenstil, der den persönlichen, rau wirkenden Strich des Independent-Comics mit einem professionellen Gespür für Perspektiven und Panelfolgen verbindet.
Euphorie der Jugend, Horror des Alterns
„Geistergeschichten“ handelt von den Brüdern Vince und Lou, die – wie einst auch Lemire – in der landwirtschaftlich geprägten Region Essex County südwestlich von Toronto aufwachsen, gemeinsam Karriere als Eishockey-Spieler im Kanada der 1950er Jahre machen – bis beider Leben aus der Bahn geraten. All dies erzählt Lemire aus der rückblickenden Perspektive des einen Bruders, der als alter Mann zunehmend in der Vergangenheit versinkt und an der Gegenwart verzweifelt.
Mit kantigen Zeichnungen verpasst Lemire seinen Figuren Charakterköpfe, die trotz leicht karikierender Überzeichnung eine Bandbreite an Emotionen vermitteln. Die Euphorie der Jugend zu Beginn der Sportlerkarriere, die Verwirrung nach einem alles ändernden Ereignis, die Unfähigkeit, in schwierigen Situationen die richtigen Worte zu finden, der Horror des einsamen Alterns – meist reichen dem Künstler wenige Striche, um seinen Figuren Tiefe zu vermitteln und den Leser zu packen. Das kippt gelegentlich ins Melodramatische, aber durch kluge Zeit- und Szenenwechsel treibt Lemire die Handlung voran und bewahrt sein Werk davor, zu rührselig zu werden.
Ein bewegendes Stück Comic-Kunst – und eine wichtige Erinnerung daran, dass trotz der derzeitigen Erfolge als Autor von von anderen Künstlern gezeichneten Mainstream-Comics Lemires eigentliche Stärke darin liegt, seine eigenen Geschichten auch zeichnerisch auf seine ganz besondere Weise umzusetzen.
Jeff Lemire: Geistergeschichten, Edition 52, 224 Seiten, 18 Euro.
Weitere Tagesspiegel-Artikel über frühere Lemire-Werke stehen unter diesem Link.
Lars von Törne
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