Buchmesse Istanbul: Szenen aus einem geteilten Land
Moritz Rinke über seinen Besuch auf der Buchmesse in Istanbul und die türkische Kulturszene unter Erdogan
Die Schauspielerin Meltem Cumbul erzählt die vielleicht absurdeste Geschichte aus der neuen Erdogan-Türkei. Cumbul, so eine Art türkische Angelina Jolie, ist nebenbei auch Präsidentin der Schauspieler-Gewerkschaft und berichtet auf der Buchmesse Mitte November in Istanbul über die Situation von türkischen Film- und Theaterkünstlern.
In Sur, einem zentralen Stadtbezirk von Diyarbakÿr im Südosten der Türkei, habe man drei kurdische Schauspieler im kleinen Stadttheater entlassen mit dem Hinweis, dass man Jobs bei der Ordnungspolizei für sie habe. Bei jener Polizei, die in den kurdischen Kriegsgebieten dafür sorgt, dass die Bevölkerung ihre von türkischen Militärs beschossenen Häuser nicht mehr verlassen kann; die dafür sorgt, dass die Zufahrtswege für Krankenfahrzeuge zu den Verletzten versperrt werden.
Die Willkür in der Türkei hat also schon etwas Dadaistisches.
Die Säuberungswelle ist bei den Verlagen noch nicht angekommen
Zusammen mit Verlegern, anderen Schriftstellern und Journalisten bin ich auf der 36. Internationalen Buchmesse in Istanbul. Deutschland als Gastland präsentiert sich mit 35 Veranstaltungen in einem eigenen Pavillon, gestaltet vom Auswärtigen Amt, der Frankfurter Buchmesse und dem Goethe-Institut Istanbul.
Ich bin überrascht. Erwartet hatte ich eine Messe, die so aussehen würde wie der Stand der Türkei auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober mit Bildbänden des türkischen Kulturministeriums und historischen Abhandlungen über das Osmanische Reich, religiöse Erbauungsliteratur, ein bisschen Orhan Pamuk, der den Behörden mittlerweile sogar fast recht sein dürfte, weil er so schön schweigt und sein Nobelpreis unter türkischer Flagge strahlt. Tausende von Erdogan-Biografien hatte ich erwartet, jeder Verlag mindestens eine, Atatürk-Biografien nur auf Nachfrage aus der Kiste, so stellte ich mir den Kampf der islamischen „Demokraten“ gegen die verhasste laizistische Vergangenheit der Türkei vor.
Doch offenbar ist die Säuberungswelle bei den Buchverlagen noch nicht angekommen, vielleicht kann man vom Putschtag des 15. Juli bis zur Eröffnung der Buchmesse im November auch nicht alles auf Linie bringen: Universitäten, Gerichte, Verwaltungen, Zeitungsredaktionen, Fernsehsender, Theater, zuletzt das Parlament durch die Verhaftung der Opposition. Der Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaÿ, sitzt in Isolationshaft im Hochsicherheitstrakt in Edirne.
Verleger Öz sagt: "Ich drucke Bücher, bis man mich abführt."
Das gehört auch zum faschistoiden Dadaismus der Türkei. Die Regierung beklagt den Beschuss des Parlaments in Ankara durch die Putschisten, sperrt aber die Insassen des Parlaments in Hochsicherheitstrakte…
In Halle 3 finde ich alles, was derzeit mit offenem Visier gegen die Erdogan-Türkei anschreibt: Fatih Portakal, der auch Anchorman beim Fernsehsender Fox ist; Ece Temelkuran („Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?“); Yilmaz Özdil, den furchtlosen Kolumnisten der Zeitung „Hürriyet“ oder eben Can Dündar, den früheren Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, der nachgewiesen hatte, dass der türkische Geheimdienst an Waffenlieferungen an den IS beteiligt war, und der jetzt im Exil in Berlin lebt, nachdem ihn ein fanatischer Erdogan-Demokrat auf offener Straße in Istanbul erschießen wollte.
Dündars Bücher erscheinen im Can-Verlag, dessen jungen Verleger ich aus der türkischen Autorennationalmannschaft kenne. Er ist ein exzellenter Innenverteidiger, auf dem Rasen wie im Verlag. „Ich drucke die Bücher von Dündar und anderen so lange, bis man mich abführt“, sagt Can Öz an seinem Stand, überreicht mir einen Stapel Dündar-Bücher und begrüßt Bagis Erten.
Bagis Erten ist der Bert Brecht der türkischen Fußballberichterstattung, klein, mit Mütze, aber eine der subversiven Stimmen des Landes, der beim türkischen NTV seine Fußballmoderationen stets mit Angriffen auf das Regierungssystem mischt. Erten hat gerade mit Can Öz das türkische Sportmagazin „Socrates“ auch in Deutschland herausgebracht. Was für eine Nachricht! Redaktionszerschlagungen, Zerfall des türkischen Lira, das vermeintliche Ende der Europa-Ambitionen, aber Öz und Erten bringen ein türkisches Magazin in Deutschland heraus.
Viele Intellektuelle haben sich fürs Schweigen entschieden
Auch die Eröffnung der Buchmesse war überraschend. Der Leiter der Buchmesse, der Tüyap-Manager Deniz Kavukcuoglu, ist ein Maoist, der unter der letzten Militärdiktatur im deutschen Exil lebte. In seiner Ansprache sagte er: „Die Schließungen von Redaktionen sind ein fundamentaler Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien, die in der türkischen Verfassung festgeschrieben sind, und spielen den Feinden der Demokratie in die Hände – den Putschisten.“
Vermutlich fragte sich jeder, welche „Putschisten“ er meinte: jene stümperhaften Militär-Putschisten und angeblichen Gülen-Anhänger des 15. Juli oder jene Regierungskräfte, die nun den Putsch zum Anlass genommen haben, eine ganze zivile und liberale Gesellschaft gleich mit unter terroristischen Generalverdacht zu stellen? In einer Situation, in der viele Intellektuelle sich aus Angst zunehmend für das Schweigen entscheiden, ist das ein mutiger Auftritt, vermutlich der letzte dieser Art.
Danach sprach der türkische Vizeminister für Kultur, beschimpfte die Putschisten des 15. Juli, lobte die Niederschlagung des Putsches, lobte die Schönheit der Türkei, beschimpfte die PKK, begrüßte das Gastland Deutschland, indem er Goethe lobte, an den er stets denken müsse, wenn er durch Berlin spaziere (vermutlich meinte er Weimar).
Demonstranten fordern die Freilassung inhaftierter Autoren
Die Büchermenschen und der türkische Vizeminister standen unter dem Schriftbanner „Philosophy & Humanity“ gemeinsam auf der Bühne – ein Szenenbild der neuen Türkei: auf der einen Seite die Dummheit und Geistesferne; auf der anderen Seite die bald ganz und gar weggesperrte, freie Gedankenwelt.
Auf der Messe ziehen jetzt Besucher mit Plakaten durch die Korridore, auf denen die inhaftierte Schriftstellerin Asli Erdogan abgebildet ist. Die Kolumnistin der prokurdischen Zeitung „Özgür Gündem“ sitzt seit August dieses Jahres im Istanbuler Bakÿrköy-Gefängnis, die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft für die Autorin. (Einige meiner Kollegen verabreden eine Mahnwache vor dem Gefängnis auf Initiative von Alexander Skipis, dem Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.)
Messebesucher nicht als Manga-Comic-Kostümierte, wie auf deutschen Buchmessen üblich, sondern als Demonstranten – dies verdeutlicht uns deutschen Gastteilnehmern auch, dass es hier um weit mehr als um Bücher und Betriebsamkeiten der Branche geht. Man stelle sich auf der Frankfurter Buchmesse Fachbesucher mit Freedom-for-Bodo-Kirchhoff- oder Freedom-for-Peter-Schneider-Plakaten vor, undenkbar.
"Bei uns geht es um alles", sagt Sema Kaygusuz
„Literaturmärkte demokratischer Gesellschaften haben Themen wie Liebe, Beziehung, Stadt-Land, Mikrothemen eben. Oder sie stürzen sich auf die Flüchtlinge, wenn sie ihrer selbst müde sind“, erklärt mir die Autorin Sema Kaygusuz („Schwarze Galle“, Matthes & Seitz) auf einem Podium über europäische Werte. „Wir aber haben jetzt nur noch Makrothemen“, erklärt sie weiter, „bei uns geht es um alles.“
Es geht auf dieser Buchmesse auch um enttäuschte Erwartungen. Journalisten wie Can Dündar oder eben Sema Kaygusuz vermissen eine deutlichere Haltung des Westens gegenüber der Türkei, die ja immerhin noch Europaratsmitglied und Nato-Verbündeter ist, aber schon offen über die Wiedereinführung der Todesstrafe spricht. „Die deutsche Bundeskanzlerin präsentierte sich nur zwei Wochen vor den Parlamentswahlen in der Türkei mit dem Präsidenten auf dessen goldenen Thronen“, sagt Sema Kaygusuz.
Ich nicke, setze noch leise etwas über Flüchtlingsabkommen zwischen Brüssel und Ankara und einen schrecklichen innenpolitischen Druck in Berlin entgegen. Aber das wollen Menschen, deren Existenzen gerade vernichtet werden und denen jeden Tag das Verschwinden ins Gefängnis droht, ganz bestimmt nicht hören.
Steinmeier ist Don Quijote, Erdogan Richard der Dritte
Während Sema Kaygusuz weiter die westlichen Werte einfordert, denke ich an dieses Collagenfoto aus den sozialen Medien, auf dem der neu gewählte amerikanische Präsident Donald Trump gemeinsam mit Putin und Erdogan auf einem Pferd zur Jagd reitet. Am nächsten Tag fährt die deutsche Delegation im Bus wieder zur Messe und erleidet mitten auf der Stadtautobahn einen Achsenbruch. Ein bewegendes Bild: Der Direktor der Frankfurter Buchmesse läuft mit dem Leiter des Goethe-Instituts Istanbul sowie dem Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels über eine achtspurige Autobahn, sie steigen mit fliegenden Mänteln und Dossiers über europäische Werte unter den Armen über Leitplanken, gefolgt vom Lebensphilosophen Wilhelm Schmid.
Zu Hause angekommen, sehe ich den Außenminister Steinmeier im Fernsehen, wie er neben Erdogan in Ankara sitzt. Wieder so eine Szene mit zwei Welten, wie das Bühnenbild bei der Buchmessen-Eröffnung. Auf der einen Seite sitzt Richard der Dritte, die irrsinnige Logik des Machterhalts um jeden Preis. Auf der anderen Seite der Don Quijote der Diplomatie, der in dieser türkischen Tragödie nichts, aber auch gar nichts mehr auszurichten vermag.
Es sei denn, alle entlassenen Schauspieler der Türkei gingen plötzlich wirklich zur Polizei, verhafteten den Präsidenten und ließen alle anderen wieder frei.
Moritz Rinke lebt als Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Sein jüngstes Theaterstück „Wir lieben und wissen nichts“ wird an über 50 Bühnen national und international gespielt. Im Tagesspiegel-„Sonntag“ schreibt er die monatliche Kolumne „Erinnerungen an die Gegenwart“.