Virtuelle Installation von Alejandro Iñárritu: Sturm an der Grenze
Starkes Statement gegen Trump: Die virtuelle Installation „Carne y Arena“ das Oscar-Preisträgers Alejandro Iñárritu in Mailand.
Ein pulsierendes Herz liegt wie verloren am Boden, in einem Gully. Manch einer mag es ganz übersehen oder sich nur wundern, wenn er bis in den obersten Stock des Turms gestiegen ist. Das Unheimliche jedenfalls ist hier Programm. Und das verlorene Herz des Gully-Künstlers Robert Gober erscheint nur als Vorspiel zu magisch Herzzerreißendem.
In einer merkwürdigen Umgebung. Denn das Zentralgebäude der Fondazione Prada, der in Mailand und mit einer Dependance auch in Venedig etablierten Kulturstiftung des italienischen Modeimperiums, der Turm, heißt wie die kleine Dauerausstellung darin „The Haunted House“. Das Spukhaus. Freilich, wir sind bei Prada, die Außenhaut des Turms leuchtet in Gold.
Nur vier U-Bahnstationen vom Mailänder Dom beginnt am südlichen Rand der metropolitan eleganten Innenstadt eine Mischung aus Bahntrassen, Brachen, billigen Nachkriegsbauten sowie ersten Luxuswohnblocks, den Vorzeichen der Gentrifizierung, aber auch des mit immer mehr Start-ups befeuerten Mailand- Booms. Deutlichstes Symbol ist mittendrin eine über hundert Jahre alte ehemalige Schnapsdestillerie mit einem Ensemble eben noch verlassener Industriehallen. Sie hat der holländische Architekt Rem Koolhaas vor zwei Jahren für die Prada-Stiftung in eine Art Kunst-Siedlung verwandelt, mit kleiner Piazza und einem Café, ausgestattet in einem Retrofuture- Look, irgendwie zwischen 1960 oder 2060. Und der Gold-Turm mitten zwischen den industriegrau gehaltenen Ausstellungsbauten ist natürlich eine ironische Anspielung auf das Zusammenspiel von Geld und Kunst. Wobei die Risse im Betonboden des Turms und der Rauminstallationen von Robert Gober und Louise Bourgeois sich auf Nachfrage nicht als Teil der Kunst erweisen. Schon nach zwei Jahren ist das ein unfreiwilliger Schaden. Wie von einem Erdbeben.
Zuschauer werden vor „immersiven Erfahrungen“ gewarnt
Die Erde und die Sinne erbeben lässt nun ganz buchstäblich der mexikanische Filmkünstler Alejandro González Iñárritu. Im lang gezogenen „Deposit Nr. 10“, der hintersten Halle des Prada-Areals, direkt neben einem dekonstruktivistisch auskragenden, jetzt kurz vor der Vollendung stehenden weißen Hochhaus, das Rem Koolhaas für die Verwaltung der Fondazione entworfen hat, zeigt Iñárritu sein neues Werk „Carne y Arena“.
Das ist die erste Arbeit des bald 54-jährigen Erfolgsregisseurs, ein Projekt, das er schon während der Arbeit an seinen beiden Oscar-gekrönten Filmen „Birdman“ (2014) und „The Revenant“ (2015) begonnen hatte. Die noch bis zum 15. Januar 2018 laufende interaktive Ausstellung bespielt fünf zu einem Parcours verbundene Räume: mit einer den Zuschauer im Zentrum virtuell und virtuos einbeziehenden Video-Installation.
Seinen Zeit-Slot muss man im Internet vorbuchen, weil jeweils nur eine Person sich alle zehn bis fünfzehn Minuten dort zu „Carne y Arena“, also „Fleisch und Sand“, hineinbegeben darf. Dies freilich erst, nachdem man seine zustimmende Unterschrift unter ein dreiseitiges Dokument gesetzt hat, in dem vor allem Herzkranke oder empfindliche Gemüter vor Schocks und Angst erregenden „immersiven Erfahrungen“ gewarnt werden.
Das ist, schon aus versicherungsrechtlichen Gründen, die schiere Vorsicht. Und sehr amerikanisch geprägt, schließlich lebt der Urheber seit Jahren in Los Angeles. Aber ein bisschen heftig wird es schon.
Vier Jahre Recherche mit mexikanischen Geflüchteten
Es geht um die mexikanischen Flüchtlinge und Immigranten in den USA und die schon zu Obamas Zeiten verschärfte, von Donald Trump gar zum gigantischen Mauer-Vorhaben gesteigerte amerikanische Abschottungspolitik. Und dass dies für Alejandro Iñárritu buchstäblich eine Herzensangelegenheit ist, wird gleich beim Eintritt in den ersten Raum klar.
Aus dem Dunkel leuchtet auf einer Leinwand wieder ein Herz, das in und über einer nächtlich dunstigen Wüstenlandschaft zu schweben scheint. Durch das Herz geht eine punktierte Linie. Eine Grenze. Auf der einen Seite steht „U.S.“, auf der anderen „T.H.E.M.“, was sich auch lesen lässt als „wir/uns“ und „Die“ (Anderen) oder als Abkürzung von „The Mexicans“. Ohne den einen, den „mexikanischen“ Herzflügel würde das ganze Organ nicht mehr leben und schlagen – was bei einer von Trump geplanten Ausweisung der elf Millionen in Illegalität und vielfacher Diskriminierung befangenen Einwanderer aus dem Süden zu Teilen auch auf die nordamerikanische Wirtschaft und Gesellschaft zuträfe.
Aus weiteren Informationen auf einer Wandtafel erfährt man, dass Iñárritu vier Jahre lang bei Recherchen und in Workshops mit mexikanischen und anderen Flüchtlingen auf beiden Seiten der Grenze zusammengearbeitet hat. Worauf der Besucher durch eine kleine Tür aus dem dunklen Vorsaal in die nächste Sektion tritt. Und erstarrt. Mitten im Sommer erfasst einen eisige Kälte.
Das bislang wuchtigste Kunstprojekt gegen Trump
Es ist ein niedriger heller Raum, betoniert, mit einer kalten metallenen Sitzfläche in der Mitte, die dem Aufbahrungstisch einer Pathologie ähnelt. Entlang der Seitenwände sind verstaubte, zertretene Schuhe verteilt, von Kindern und Erwachsenen, wie hingeschmissen oder vergessen, da und dort ein kleiner Schuhhaufen. Das erinnert an die Asservatensammlungen in Konzentrationslagern, auch die Deckenschlitze der Betonkammer wecken trübe Assoziationen, selbst wenn aus ihnen nur die Luft strömt, die wiederum zu den Kühlhäusern für totes Fleisch passt. Alles sonst ist kahl und fahl, bis auf einen Hinweis, dass die Schuhe von (echten) Flüchtlingen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze zurückgelassen wurden. Und eine Schrift fordert uns auf, die eigenen Schuhe und Strümpfe auszuziehen, in ein Wandfach zu legen und auf ein Signal zu warten.
In der sich dehnenden Zeit in dieser frostigen Vorhölle bebt die Betonhöhle immer wieder und lässt den Wartenden, weil da eine ungeheure Gewalt spürbar ist, auch physisch erzittern. Man glaubt sich von einem nahen Tornado ergriffen, zwei-, dreimal. Dann blinkt es und sirrt es an der nächsten Tür, und wir tapern wie erlöst in einen großen dunklen, von sanfter Herzblutröte getönten Raum, gehen barfuß über warmen Sand und Geröll, treffen auf eine junge Frau und einen jungen Mann, zwei freundliche Assistenten, die uns einen kleinen Rucksack und eine blickdicht abgeschlossene Brille mit Kopfhörern anlegen, jeweils durch Kabel mit allerlei Hightech im Rucksack verbunden. Die beiden Mitarbeiter der Fondazione haben zuvor darauf hingewiesen, dass man bei Unwohlsein oder Panik den Arm heben solle, im Übrigen könne man sich im ganzen leeren Raum auf dem körnigen Sandboden blind-sehend bewegen – und falls man drohe, gegen eine Wand zu laufen, würden sie einen durch Zupfen am Rucksack warnen. Okay?
Künstliche Sonnen erhellen die Nacht
Okay. Ein kurzes Rauschen, und plötzlich befindet sich der Besucher in einer dämmrigen, leicht hügeligen Wüstenlandschaft, wohl in der letzten Abendsonne, während die Schatten auf und um die Kakteen und andere Trockensträucher länger werden. Da zieht in der zunächst märchenhaften Einsamkeit ein Tross Menschen heran, Männer, Frauen, Kinder, spanische Stimmen ertönen, ein Flüchtlingszug. Sie lagern sich zur Nacht, man steht oder geht in der Virtual Reality zwischen ihnen. Dann irgendwann ein anschwellendes Rauschen, das sich zum schon vorher gehörten Dröhnen und Beben steigert, wie ein Wüstensturm. Künstliche Sonnen erhellen die Nacht, Scheinwerfer blenden, es sind amerikanische Polizeihubschrauber, Männer mit MPs, genau verstehen kann man im Chaos der (Kinder-) Schreie und bellenden Kommandos das Ganze nicht. Es könnte auch ein Überfall durch Mafiosi, durch Schlepperbanden sein, es geht um Menschen, um Drogen auch, es wird brutal, allemal.
Ganz am Ende, und man ist ja noch immer selbst mittendrin, wenngleich im Bewusstsein, dass die hautnahen Schicksale vor und um einen herum nur ernste Cyberspiele sind, die Gestalten real (reale Flüchtlinge, in nachgestellten Szenen) und beim eigenen Zupacken doch nur Luft. Eine grandiose Sinnestäuschung. Mit diesem Sinn: durch Furcht und Schrecken zum Mitleid bewegt zu werden, wie in der altgriechischen Tragödie. Und Iñárritu, der auch Theater studiert hat, spricht selber von einer erhofften „Katharsis“.
Mitwirkende erzählen ihre wahre Geschichte
Am Ende ist die Wüste (von Arizona) wieder ein leeres Land, im nächsten Sonnenaufgang traumhaft schön. Wir aber sind ganz benommen, gehen jetzt an etwa 20 Meter realem Grenzzaun entlang, der von den Gringos erst kürzlich gegen eine Betonmauer ausgetauscht wurde. Und neun Mitwirkende jeden Alters erzählen in separaten Videos kurz vorm Ausgang von ihrer wahren Geschichte.
So ist hier das bislang wuchtigste, bewegendste Kunstprojekt wider Trump und alle anderen Formen mitleidloser Abschottungspolitik gelungen.
Informationen und Buchungen unter www.fondazioneprada.org