Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo: Strich für Strich zurück ins Leben
„Charlie-Hebdo“-Zeichnerin Catherine Meurisse hat ihr Trauma mit einem Buch verarbeitet. Jetzt ist "Die Leichtigkeit" auf Deutsch erschienen.
Die Leichtigkeit – Catherine Meurisse hat sie sich mühevoll erarbeitet. Sie hat das Trauma des Anschlags auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ nicht nur überlebt, sie lebt wieder. Doch die Welt ist keine bessere geworden. Am Abend vor der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ihres Comics forderte in Berlin ein Anschlag zwölf Tote und knapp 50 Verletzte.
Zwölf Menschenleben forderte auch der von zwei Brüdern verübte Anschlag am 7. Januar 2015 auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Unter den Toten sind die Zeichner Jean Cabut, Bernard Verlhac, Philippe Honoré und Georges Wolinski, der Journalist und Mitinhaber des Blattes Bernard Maris, die Kolumnistin Elsa Cayat und der Lektor Mustapha Ourrad. Die Zeichner Rénald Luzier, genannt Luz, und Catherine Meurisse wurden verschont: Sie kamen an dem Tag zu spät in die Redaktion.
Sie konnte nicht mehr leben.
Luz legte bereits vor einem guten Jahr sein Album „Katharsis“ vor, mit dem er die innere Verletzung und seinen Umgang damit öffentlich macht. Erst produziert er voller Arbeitseifer die folgenden Ausgaben der Zeitung, wenige Monate später schied er aus der Redaktion aus. Auch Catherine Meurisse hat die Redaktion verlassen. Auch sie konnte dort nicht mehr arbeiten. Sie konnte gar nicht mehr arbeiten. Sie konnte eigentlich gar nicht mehr leben.
Die ersten Bilder ihres Comics „Die Leichtigkeit“ zeigen sehr schöne, weiche, fast abstrakte großflächige Strandszenen. In melancholischem Blau und Lila gehaltene Dünenlandschaften umrahmen die Autorin, die sich selber als Karikatur darstellt. Schließlich landet sie als Strichmännchen in einem abstrakten Gemälde. Es sieht aus wie ein Bild von Mark Rothko, es hätte auch ein Turner sein können. Catherine Meurisse ist geflüchtet. In die Natur, die das Beständige, Dauerhafte repräsentiert. Und in die Schönheit der Kunst. Allein, es bedeutet ihr nichts mehr.
Im ersten Moment glaubt sie wie Luz, dass sie sofort weitermachen muss: „Was ist dieser ,Geist von Charlie‘ für mich? Das ist das Lachen über die Absurditäten des Lebens, gemeinsam zu lachen, um vor nichts Angst zu haben, vor allem nicht vor dem Tod.“ Die Gedanken geben ihr Kraft, ebenso die Fantasie, dass ihre toten Kollegen sie auffordern, ihre Wut für Zeichnungen zu nutzen. Allein: Da ist keine Wut.
Farbe gibt es zunächst wenig in „Die Leichtigkeit“. Die Redaktionstreffen in den Tagen nach dem Attentat, ein Krankenhausbesuch, Catherine alleine in der Wohnung oder unterwegs – stets begleitet von Personenschützern: Da ist kein Platz für Farbe. Die „Je suis Charlie“-Solidaritätswelle irritiert sie nur noch mehr.
Alltag im Ausnahmezustand
Es sind die kleinen Fluchten in die Natur, die Meurisse in farbige Aquarellzeichnungen taucht, weil sie ihr Kraft geben. Hin und wieder tauchen auch einzelne Farbkleckse auf den Seiten auf, wenn die Liebe – chancenlos – versucht, gegen die innere Leere anzukommen. Oder wenn ein Theaterbesuch ihr mehr über den eigenen Zustand erzählt als ihr Alltag im Ausnahmezustand.
Nicht einmal eine Reise nach Cabourg, dem inspirierenden Ferienort ihres Lieblingsautors Marcel Proust, lässt sie wieder fühlen. Die berühmte Madeleine – sie löst überhaupt keine Erinnerungen aus. An die letzten Worte ihres Kollegen Ourrad zwei Tage vor dem Attentat kann sie sich nicht erinnern. Alles ist vergessen: Ihre Erinnerung und ihr Urteilsvermögen lassen sie im Stich. „Wer bin ich?“, fragt sich die orientierungslose Catherine Meurisse. Sie steht immer noch unter Schock, leidet an Dissoziation – einer emotionalen und sensorischen Erinnerungsanästhesie – wie ihr ein Therapeut erklärt. Sie fühlt sich, als schaue sie ihrer eigenen Implosion zu.
Doch dann stößt sie auf den Schriftsteller Stendhal, der bei seiner Italienreise im Jahr 1817 in Anbetracht einer Flut an Kunstschönheit von einer Ohnmacht ergriffen wird. In ihrer Sehnsucht nach Gefühl sucht Meurisse dieses sogenannte Stendhal-Syndrom, als sie sich in die Villa Medici in Rom begibt, wo sich die der Académie des beaux-arts angeschlossene Académie de France à Rome befindet. Dort sucht sie die Schönheit – und findet sie. Sie guckt sich all die Gemälde von Caravaggio mit ihren biblischen Darstellungen menschlicher Grausamkeit an – und kann sie ertragen, trotz der Parallelen zu den Grausamkeiten des Anschlags, die sie für immer in sich tragen wird.
In einer Skulpturengruppe im Garten erkennt sie eine Spiegelung des Anschlags auf „Charlie Hebdo“. Es ist eine Geschichte aus der griechischen Mythologie: Die Titanin Leto sendet ihre Kinder Apollon und Artemis aus, um die zahlreichen Nachkommen von Niobe zu töten, weil die sich mit ihren vielen menschlichen Kindern über die Göttin Leto mit nur zwei Kindern gestellt hatte. Den Hochmut büßt sie durch die Tat der Brüder bitter und versteinert aus Gram ähnlich wie Meurisse.
In St. Peter findet sie ihren Witz wieder
Aber der Mensch braucht das Schöne in Kunst und Natur, um das Grausame zu überleben, stellt Meurisse am Ende fest. Mehr noch: sie selbst braucht die künstlerische Betätigung. Zum Beispiel in Form dieses Buches.
Wir als Leser erleben, wie Meurisse während der Arbeit daran gesundet. Wie sich das innere Chaos und die Orientierungslosigkeit anfänglich in einem wilden Stilgemenge Bahn bricht – Cartoons neben Strips, Farbe neben Schwarz-Weiß und das Ganze in einem unruhigen Seitenaufbau – und dann langsam formiert zu einem rhythmischen Erzählfluss. Und zugleich erleben wir, wie sich Meurisse von der schnappschussartigen Karikaturistin zur langatmigen Erzählerin einer Geschichte wandelt.
In St. Peter in Rom findet sie sogar ihren Witz wieder: „Wenn ich mir die Kuppel dort oben betrachte, bin ich überzeugt, nicht Gott zu sehen, wie die Architekten es gewollt hatten, sondern das Ende des Tunnels. Das Endes des Tunnels des Jahres 2015 … Gut. Ich sehe da zwar auch das Ende eines riesenhaften Darms, aber das kommt halt davon, wenn man bei ,Charlie‘ arbeitet.“
Catherine Meurisse ist gläubig geworden. Sie glaubt an die heilende Kraft der Schönheit.
Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen Verlag, Vorwort: Philippe Lançon, aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Lettering: Olav Korth, 134 Seiten, 19,99 Euro
Christian Meyer-Pröpstl