"Charlie Hebdo" nach dem Anschlag: Kommen zwei Terroristen ins Paradies
Heute erscheint die erste Ausgabe von „Charlie Hebdo“ nach dem Massaker in der Redaktion. Sie versammelt Zeichnungen der ermordeten Karikaturisten und ihrer Kollegen, die überlebt haben. Selbst die weltweite Solidarität verschont sie nicht mit Spott.
„Seit einer Woche“, so steht es im Editorial des neuen Chefredakteurs Gerard Biard, „hat die atheistische Zeitschrift ,Charlie Hebdo’ mehr Wunder bewirkt als alle Heiligen und Propheten zusammen. Was uns am stolzesten macht, ist die Tatsache, dass Sie eine Zeitschrift in Händen halten, wie wir sie immer gemacht haben, und zwar gemeinsam mit denen, die sie immer gemacht haben.“
In der Tat, auf den acht Doppelseiten der ersten Ausgabe von „Charlie Hebdo“ nach dem Massaker in der Redaktion am 7. Januar, dem 12 Mitarbeiter zum Opfer fielen, finden sich zahlreiche ältere Zeichnungen der ermordeten Journalisten. Gleich neben dem „Apéro“ von Biard ist ein Cartoon von Cabu alias Jean Cabut abgebildet „Yalta im Vatikan“ übertitelt, mit dem Papst, einem Imam und einem Rabbi an der Weltkugel. Sie teilen sich die östliche und die westliche Hemisphäre auf, bloß wie, das ist nicht ganz klar: Der Papst macht die Ansage, der Rabbi verschränkt die Arme, und im Hintergrund betrachtet ein kalhköpfiger buddhistischer Mönch die Szene. Oder ist es ein Stammeshäuptling?
"Charlie Hebdo": Redakteure verteidigen Recht auf Gotteslästerung
Rechts neben dem Intro mokiert sich Georges Wolinski, der mit 80 Jahren Älteste unter den Getöteten, mit der Rückenansicht einer halbnackten sexy Blondine und dem Tattoo „Kein Gott, kein Meister“ über „100 Jahre Laizismus“. Philippe Honoré karikiert den Papst mit einem Messer zwischen den Zähnen, und Tignous alias Bernard Vernac fragt nach der Größe einer islamistischen Zelle. „9 m2?“, dazu die Zeichnung eines Terroristen in der Gefängniszelle. Auch Honoré und Tignous gehören zu den Opfern vom vergangenen Mittwoch.
Das Recht auf Gotteslästerung werden sie weiter verteidigen, hatten die überlebenden Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift bei der Pressekonferenz am Dienstag gesagt. Und dass sie die Leser auch weiter zum Lachen bringen wollen, das sei schließlich ihr Metier. Auch wenn der Karikaturist Luz einen weinenden „Je suis Charlie“-Mohammed für das grüne Cover gezeichnet hat, mit der Schlagzeile „Alles ist vergeben“ darüber - die seit der gestrigen Pressekonferenz ihrerseits bereits Schlagzeilen gemacht hat.
„Am meisten bringt uns zum Lachen“, schreibt Biard, „dass die Glocken von Notre Dame uns zu Ehren geläutet haben.“ Um im Schlusssatz seines Editorials hinzuzufügen: „Wir akzeptieren erst dann, dass die Glocken von Notre Dame zu unseren Ehren läuten, wenn die Frauen von Femen sie zum Bimmeln bringen.“
"Sonntag 11. Januar 2015. Mehr Leute gehen zu Charlie als in die Messe"
Die Knollennasen-Männchen des ermordeten Chefredakteurs Charb finden sich auf etlichen Seiten, auch der frivole Strich von Wolinski und Tignous sowie die holzschnittartigen Zeichnungen von Honoré. Die Zeichnerin Catherine Meurisse würdigt die Psychoanalytikerin Elsa Cayat, die einzige Frau unter den Toten, mit einem Couch-Cartoon: Cayat hatte eine zweiwöchige Kolumne "Charlie Divan", deren letzte ist ebenfalls abgedruckt. Auf Seite 5 eine große Karikatur von Cabu, auf dem Dschihadisten beim Studentenaustausch-Programm Erasmus nach dem Reiseziel Syrien fragen. Dort angekommen, fragt einer der Milizenführer einen der franko-arabischen Jugendlichen: "Hast du dein Abitur im 93.(der berüchtigten Banlieue) gemacht? Dann musst du Toiletten putzen." Bei dieser Herkunft hat man selbst als Terrorist keine Aufstiegsschancen. Klassische Nachrufe finden sich nicht - außer einem auf den am Samstag gestorbenen italienischen Polit-Filmemacher Francesco Rosi. Neben Hommagen, anrührenden, trotzigen, würdigenden Texten der 15 übrig gebliebenen „Charlie Hebdo“-Mitarbeiter - unter anderem über den Redaktionshund Lila, der überlebt hat - ist die Ausgabe mit aktuellen Cartoons gefüllt.
Die meisten stammen von Luz alias Renald Luzier, etliche auch von Catherine. Auch die weltweite Solidarität und der große Trauermarsch vom Sonntag werden freundlich verspottet. „Sonntag 11. Januar 2015. Mehr Leute gehen zu Charlie als in die Messe“ hat die Zeichnerin Catherine Meurisse über den Triumphbogen geschrieben. Die Flamme für den Ewigen Soldaten ruft: "Je bande - Ich komme," eine sexuell konnotierte Vokabel. In einer Plus-Minus-Bilanz der vergangenen Tage findet sich unter anderem Madonna auf der Plus-Seite (weil sie „Charlie“ unterstützt, indem sie „ihr Höschen in die Luft wirft“), Angela Merkel hingegen auf der Minus-Seite (weil sie „die Hosen anbehält)“. Ist die Tatsache, dass einige Schreibfehler deutlich ins Bild gerückt sind, vielleicht eine Verneigung vor dem ebenfalls ermordeten Korrektor Mustapha Ourrad - oder schlicht den schier unmöglichen Umständen bei der Entstehung des Hefts geschuldet?
"Wo sind die 70 Jungfrauen?" - "Bei der Truppe von Charlie, Ihr Flaschen"
Auf der Rückseite des Magazins sind zahlreiche kleinere Cartoons versammelt, darunter eines mit vier religiösen Würdenträgern (ein Jude, der Papst, ein Moslem, ein griechisch-orthodoxer Priester) unter der Zeile „Neue Freunde“. Luz hat für die letzte Seite außerdem auf eine ältere Karikatur seines toten Kollegen Tignous reagiert, die auf Seite 2 abgebildet ist. Bei Tignous treffen sich drei Imame, sagt der eine: "Von den ,Charlie Hebdo'-Leuten sollten wir die Finger lassen." Sagt der andere: "Denn sonst werden sie zu Märtyrern und kaum sind sie im Paradies, schnappen sie uns alle unseren Jungfrauen weg." Bei Luz kommen die beiden Attentäter der „Charlie Hebdo“-Redaktion im Paradies an. „Wo sind die 70 Jungfrauen?“, wollen sie wissen. „Bei der Truppe von Charlie, Ihr Flaschen“, lautet die Antwort. Im Hintergrund findet gerade eine Orgie statt, halb von einer Wolke verdeckt.
Die Trauer-Ausgabe von „Charlie Hebdo“, die sich weigert, in Trauer zu erstarren, erscheint am heutigen Mittwoch in einer Auflage von fünf Millionen Exemplaren, ursprünglich war von drei Millionen die Rede gewesen. Was den Komiker und "Charlie"-Gastautor Mathieu Madenian zu der Bemerkung veranlasst, als "Charlie"-Leser habe er sich immer für etwas Besonderes gehalten. Jetzt würde sogar seine Schwester, die sonst nur Frauenzeitschriften mag, das Blatt lesen – Frechheit! Eine größere Auflage einer Zeitung oder Zeitschrift gab es in Frankreich noch nie. Die am Mittwochfrüh ausgelieferte Auflage war an den 27.000 Kiosken Frankreichs nach wenigen Minuten vergriffen. Stammkunden hatten sie schon Tage vorher reserviert.
Erste Proteste gibt es seitens ägyptischer Islamgelehrter und , wegen Mohammed auf dem Titelblatt. Die türkische Tageszeitung "Cumhuriyet" druckt einige Seiten des jüngsten "Charlie"-Hefts nach, allerdings ohne das Cover mit Mohammed. Auch die "Süddeutsche" zeigt eine Doppelseite. Ausgaben auf Italienisch sollen erscheinen sowie Online-Versionen in Englisch, Arabisch und Spanisch. Am Samstag wird das französische Heft voraussichtlich auch in Deutschland an den Kiosken liegen. In der aktuellen Ausgabe wird außerdem der nächste „Charlie Hebdo“ angekündigt, er soll in zwei Wochen erscheinen, am 28. Januar.