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Vor aller Augen. Am Morgen des 20. Juni 1943, einem Sonntag, finden in Amsterdam große Razzien statt. Ganze Stadtviertel werden abgeriegelt und Juden werden aufgefordert, sich zu Sammelplätzen zu begeben. Viele Juden haben diese Aktion erwartet; ihr Gepäck steht schon an der Tür bereit. Familien kommen hier mit schwerem Gepäck zum Sportpark auf dem Olympiaplein, dem Sammelplatz im Süden von Amsterdam.Foto: Herman Heukels NIOD
© Herman Heukels NIOD

Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945: Stigmatisiert, entrechtet, ermordet

75 Prozent der jüdischen Bevölkerung der Niederlande wurden unter der deutschen Besatzung von 1940 bis 1945 umgebracht

Es ist eine ungeheuerlich große Zahl, die höchste in Westeuropa: 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung der Niederlande wurden während der deutschen Besatzung, die vom 10. Mai 1940 bis zum 5. Mai 1945 währte, deportiert und in Konzentrationslagern im Osten ermordet. Dabei hatte Hitler mit seinem „Plan Gelb“ angeblich nur vor, die Niederlande und Belgien zu besetzen, um Frankreich besser angreifen zu können. Und der von Hitler persönlich als „Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete“ eingesetzte österreichische Nationalsozialist Artur Seyß-Inquart hatte zu Beginn der Besatzung erklärt, „… das bisher geltende Recht möglichst in Kraft zu belassen, zur Ausübung der Verwaltung die niederländischen Behörden und die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu wahren“. Den Nationalsozialisten schwebte vor, die Niederländer als „germanisches Brudervolk“ zu bekehren und später ihr Land vielleicht sogar zu annektieren.

Die Gefahr unterschätzt

Man hatte in den Niederlanden geahnt, dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, spätestens aber der Überfall auf Polen 1939 nichts Gutes für das eigene Land bedeuten würde. Aber man hoffte auf die erklärte Neutralität wie schon während des Ersten Weltkriegs. Von daher war der Überfall ein Schock. „Nie werde ich eine ,À la Recherche du Temps Perdu‘ schreiben können, weil diese ersten sechs Jahre, meine Kindheit, wirklich ,perdu‘ sind, verloren, fortgeweht, übertönt vom Lärm der Heinkel und der Stukas“, erinnerte sich später der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom in seinem Beitrag „Im Wartezimmer Europas“ als Zeitzeuge aus der Ferne der Bombardierung Rotterdams. 800 Zivilisten kamen dabei ums Leben. Am 15. Mai kapitulierten die Niederlande, zwei Tage zuvor war die Königsfamilie ins Exil nach London gegangen. Die unzulänglich ausgerüstete Armee hatte noch heftigen Widerstand geleistet, 2067 Soldaten waren gefallen und 2559 Zivilisten ums Leben gekommen, 80 000 Niederländer wurden obdachlos. Die Spitzenbeamten der Ministerialbürokratie waren im Land geblieben, damit die Verwaltung weiter funktionierte.

Kinder feiern 1942 in Deventer das Jüdische Neujahr (Rosch ha-Schana). Allein von Felice Polak im weißen Kleid ist bekannt, dass sie überlebt hat. Mitarbeiter des Bureau Joodse Zaken (Amt für Jüdische Angelegenheiten) der Amsterdamer Polizei überprüfen 1942 die Personalausweise jüdischer Händler.
Kinder feiern 1942 in Deventer das Jüdische Neujahr (Rosch ha-Schana). Allein von Felice Polak im weißen Kleid ist bekannt, dass sie überlebt hat. Mitarbeiter des Bureau Joodse Zaken (Amt für Jüdische Angelegenheiten) der Amsterdamer Polizei überprüfen 1942 die Personalausweise jüdischer Händler.
© Etty Hillesum Stichting, Deventer

Schockierend war der deutsche Einmarsch auch für die seit dem Jahr 1933 rund 50 000 aus Deutschland und Österreich in die Niederlande geflohenen Juden und politisch Verfolgten. Viele niederländische Zeitungen hatten vor dem Krieg kritisch über die Vorgänge im Deutschen Reich berichtet, allerdings war die Regierung darauf bedacht, den großen Nachbarn nicht zu provozieren, und hielt sich bedeckt. Für die zunehmende Zahl von Flüchtlingen aus dem Deutschen Reich hatte man 1939 in einem abgelegenen Heidegebiet das Lager Westerbork eingerichtet, wo die Flüchtlinge ohne Kontakt zur Bevölkerung untergebracht wurden.

In den ersten Monaten nach der Besatzung verhielten sich die deutschen Soldaten zunächst korrekt. „Die Besatzungsmacht war darauf aus, den Eindruck von ,Normalität‘ möglichst zu verstärken. Da die Königin als Staatsoberhaupt ins Exil gegangen war, hatte sie den Weg freigemacht, die Niederlande – im Gegensatz zu Belgien und Frankreich – nicht unter eine militärische, sondern unter eine zivile Verwaltung zu stellen“, schreibt Frank de Vree, Direktor des NIOD (Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies), in dem Begleitband zu der Ausstellung „Fotografien der Verfolgung der Juden. Die Niederlande 1940–1945“, die das NIOD zusammen mit der Stiftung Topographie des Terrors [Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin, bis 13.4.2020]veranstaltet.

Fatal war die zivile Verwaltung - hier hatten Nationalsozialisten Macht

Fatal war nur, dass mit einer zivilen deutschen Verwaltung nun ausgesuchte nationalsozialistische Führungskräfte das Sagen hatten, die sich bereits durch antijüdische Maßnahmen im Deutschen Reich hervorgetan hatten. Wer hinschauen wollte, konnte es sehen. Jüdische Journalisten der Nachrichtenagentur ANP wurden sofort entlassen, das rituelle Schlachten wurde verboten und vom 6. September 1940 an durften Juden nicht mehr bei Behörden eingestellt werden. Jüdische Zeitungen bis auf „Het Joods Weekblad“ wurden verboten. Kurz darauf mussten alle niederländischen Beamten den Ariernachweis erbringen, das heißt, ihre Abstammung bis zum Großvater nachweisen, was zu ersten Protesten führte.

Aber die meisten Niederländer wohnten in Dörfern und Städten, wo es wenige Juden gab – die konzentrierten sich in Amsterdam und Umgebung. Zudem lebte man damals in seiner eigenen konfessionellen oder weltanschaulichen „Säule“. Man ging in die katholische Grundschule, aufs katholische Gymnasium, studierte an einer katholischen Universität, war im katholischen Sportverein und hörte den katholischen Radiosender. Mit den Mitgliedern der protestantischen, liberalen oder sozialistischen Säule hatte man wenig zu tun. Antisemitische Stimmungen gab es auch, sogar eine nationalsozialistische Partei, aber die spielte mit 85 000 Mitgliedern bei elf Millionen Einwohnern keine große Rolle. Aber diese Leute wurden nun von den deutschen Besatzern gezielt in Verwaltung und Polizei eingesetzt.

Mitarbeiter des Bureau Joodse Zaken (Amt für Jüdische Angelegenheiten) der Amsterdamer Polizei überprüfen 1942 die Personalausweise jüdischer Händler.
Mitarbeiter des Bureau Joodse Zaken (Amt für Jüdische Angelegenheiten) der Amsterdamer Polizei überprüfen 1942 die Personalausweise jüdischer Händler.
© Fioti: Bart de Kok, NIOD

Rasch gingen die Besatzer dazu über, die Juden, die seit dem 16. Jahrhundert gut integriert in den Niederlanden lebten, in der Gesellschaft als Juden sichtbar zu machen und auszugrenzen. Dank des damals modernsten Bevölkerungsregisters der Welt hatten die Deutschen Zugriff auf alle Daten. So erklärten sie durch Abstammung wegen des jüdischen Großvaters auch Menschen zu Juden, die sich selber gar nicht so sahen. Dies traf rund 160 000 Bürger, 22 000 davon waren ausländischer Herkunft. In einem nächsten Schritt wurde dann für alle Niederländer die Ausweispflicht eingeführt. In den Ausweis wurde ein großes „J“ für Jude gestempelt. Die Registrierung sollte die spätere Deportation der niederländischen Juden erleichtern.

Nationalsozialistische niederländische Schlägertrupps zogen durch Amsterdam, um Auseinandersetzungen mit jüdischen Jugendlichen und Kommunisten zu provozieren. Als dabei ein NS-Aktivist getötet wurde, ließ die Besatzungsmacht Teile von Amsterdam mit Stacheldraht absperren und als „Jüdisches Viertel“ kennzeichnen. Ferner zwangen sie die jüdische Gemeinschaft, sich im „Jüdischen Rat von Amsterdam“ zu organisieren, um die Ordnung wiederherzustellen. Das war ein teuflischer Plan, denn damit machte sich der Jüdische Rat auch zum Instrument der deutschen Besatzungsmacht. Auf Befehl Heinrich Himmlers holte die deutsche Polizei am 22. und 23. Februar 1941 auf dem im Herzen des Jüdischen Viertels Jonas Daniël Meijerplein427 Männer aus ihren Häusern. Die heimlich aufgenommenen Fotos dieser brutalen Razzia brannten sich in das Gedächtnis der Niederländer ein. Die Verhafteten wurden in Konzentrationslager deportiert, nur zwei von ihnen haben den Krieg überlebt.

Heimlich kopiert. Am 22. Februar 1941 werden jüdische Männer zwischen 20 und 35 Jahren auf dem Jonas Daniël Meijerplein in Amsterdam von der deutschen Ordnungspolizei zusammengetrieben, gedemütigt und abtransportiert. Die Fotos eines vermutlich deutschen Polizisten hat der Laborant des Fotolabors kopiert. Sie wurden zu Ikonen der Besatzungszeit.
Heimlich kopiert. Am 22. Februar 1941 werden jüdische Männer zwischen 20 und 35 Jahren auf dem Jonas Daniël Meijerplein in Amsterdam von der deutschen Ordnungspolizei zusammengetrieben, gedemütigt und abtransportiert. Die Fotos eines vermutlich deutschen Polizisten hat der Laborant des Fotolabors kopiert. Sie wurden zu Ikonen der Besatzungszeit.
© NIOD

Viele Amsterdamer waren Zeuge dieser brutalen Aktion. Zwei Tage später streikten städtische Angestellte, Arbeiter und Beamte. Dieser Streik – der einzige unter deutscher Besatzung in Europa – ging als „Februarstreik“ in die Geschichte ein, er wurde brutal niedergeschlagen. „Die Juden werden von uns nicht als ein Bestandteil des niederländischen Volkes angesehen. Die Juden sind für uns nicht Niederländer. Sie sind jene Feinde, mit denen wir weder zu einem Waffenstillstand noch zu einem Frieden kommen können. Wir werden die Juden schlagen, wo wir sie treffen können, und wer mit ihnen geht, hat die Folgen zu tragen“, erklärte dazu Seyß-Inquart. Jetzt war die Maske gefallen, und es begann die systematische Verfolgung der niederländischen und der geflüchteten Juden mithilfe der niederländischen Verwaltung. 1941 wurden jüdische Arbeitslager für jene eingerichtet, die durch die Terrormaßnahmen ihre Arbeit verloren hatten. Juden wurde nun der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt. In einem nächsten Schritt wurden die niederländischen Juden als „Nicht-Bürger“ in das "Polizeiliche Durchgangslager Westerbork" und von dort in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Vom 3. Mai 1942 an musste der Jüdische Rat dafür sorgen, dass jeder Jude den gelben Stern zu tragen hatte.

Mit der Verschärfung des Krieges für die Deutschen wuchs der Druck auf die Niederländer, Lebensmittel und Güter wurden knapp, und insgesamt 500 000 Niederländer wurden als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich eingesetzt. Viele Menschen tauchten unter und entzogen sich so dem Arbeitseinsatz. Doch sie konnten nicht immer sicher sein, ob der Landsmann, den sie um Hilfe baten, sie nicht wegen einer perfiden Prämie verraten würde.

Mit dem Kriegsende kehrten die überlebenden Juden in ein zerstörtes, desorganisiertes Land zurück. „Die Niederlande, die die jüdischen Überlebenden gekannt hatten, in denen sie sich als vollwertige Bürger frei und sicher gefühlt hatten, waren bis zur Unkenntlichkeit verändert“, ist das Fazit von Frank de Vree.

Im kommenden Jahr gedenken die Niederländer des 75. Jahrestages der Befreiung, aber auch fünf Tage später des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls.

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