Kinderbuch: Plötzlich anders
Martine Letterie erzählt aus der Perspektive von Kindern von der Judenverfolgung in den Niederlanden und der Rückkehr in ein befreites Land
Bennie wird eines Morgens wach, und kurz darauf ertönt ein mächtiger lauter Knall. Und noch einer. Und noch einer. Das seien geplatzte Autoreifen, beschwichtigt der Vater. Aber Bennie hat schon zehn gezählt und glaubt ihm nicht. „Du hast recht, Bennie. Das sind keine Autoreifen. Das sind Soldaten. Sie schießen. Wir haben Krieg“, sagt der Vater.
Im nächsten Jahr ist es 80 Jahre her, dass Nazideutschland die neutralen Niederlande überfallen und besetzt hat, ein Schock für die Bevölkerung, denn der letzte Fremdherrscher war Napoleon gewesen. Die Regierung der Niederlande war immer bemüht, den großen Nachbarn nicht zu provozieren, und verhielt sich so neutral und still wie möglich. Dabei war der Krieg indirekt im Lande schon vorher spürbar. Flüchtlinge, vor allem Juden, kamen aus Deutschland und suchten Schutz beim neutralen Nachbarn. Die Regierung ließ Lager errichten, darunter Westerbork, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Später nutzten die Deutschen Westerbork als Durchgangslager für die Deportationen in die Vernichtungslager im Osten. Mehr als 18 000 jüdische Kinder und hundert Sinti-Kinder waren hier interniert. Von ihnen sind kaum mehr als tausend Kinder nach dem Krieg zurückgekehrt.
Wie jüdische Kinder den Überfall und die Besatzung erlebten, erzählt Martine Letterie in dem bemerkenswerten und bewegenden Roman „Kinder mit Stern“ [Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Mit Bildern von Julia Völk und drei Zeichnungen von Leo Meijer. Carlsen Verlag, Hamburg 2019. 128 Seiten. 11 Euro. Ab zehn Jahren] am Beispiel von fünf recht unterschiedlichen Kindern. Bennie, Klaartje, Leo, Jules und Rosa lernen plötzlich, dass ihre Welt zusammenbricht.
Klaartje versteht nicht, warum sie sich von ihrem Haus in den Niederlanden verabschieden soll. Und warum muss sie mit ihrer Familie mit dem Schiff nach Amerika fliehen und die Nachbarn nicht? „Weil wir Juden sind und die Jansens nicht“, antwortet die Mutter. Juden seien anders als Christen, sagt die Mutter. „Anders ist doch gerade schön“, setzt Klaartje entwaffnend logisch nach, aber das gilt nicht in dieser Welt.
Der Roman basiert auf wahren Geschichten Überlebender
Letterie erzählt berührende, auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichten aus unterschiedlicher Perspektive, aus dem Lager, vom Transport. Die Kinder verstehen nicht, warum sie fliehen müssen und schlecht behandelt werden, viele haben sich auch gar nicht explizit als Juden gefühlt. Gerade in der niederländischen Gesellschaft waren die Juden seit Jahrhunderten integriert. Erst die Besatzung stieß sie auf ihr sogenanntes Anderssein. Die unschuldige Perspektive der Kinder und ihre Reaktionen auf das erlittene Unrecht werfen ein Licht auf die Verbrechen der Besatzer. Auch mancher Niederländer hat das Schicksal seiner Nachbarn ausgenutzt. Da hat der Nachbar von Bennies Familie ihre Habseligkeiten nicht verwahrt, sondern nach und nach verkauft. Letterie zeigt in ihrem Roman, wohin es führen kann, wenn man andere Menschen ausschließt.