Zirkus in den Berliner Festspielen: Sterbensschwer und federleicht
Die Berliner Festspiele widmen sich nun auch dem zeitgenössischen Zirkus. Zum Auftakt zeigt die französische Compagnie du Chaos „Nebula“.
Dieses ungläubige Staunen, der Moment, in dem die Kinnlade herunterklappt und die stumme Frage „Boah, wie machen die das bloß?“ in allen Mienen steht – das ist Zirkus. Es ist die direkte, überall auf der Welt wortlos funktionierende Kraft einer Fertigkeit, die nicht jeder Mensch beherrscht. Die risikoreich, ja gefährlich ist und sich nur durch hingebungsvolles Training erreichen lässt. Mehr noch als Tänzer stehen Artisten mit Leib und Leben für ihre Profession ein.
Zeit also, dass man die auch in Deutschland als darstellende Kunst und nicht nur als Entertainment wahrnimmt. Das finden zumindest die Berliner Festspiele und widmen dem zeitgenössischen Zirkus – in Frankreich, dem Mutterland der in den siebziger Jahren entstandenen Erneuerungsbewegung, „Cirque Nouveau“ genannt – eine neue Reihe, die zukünftig zweimal im Jahr ausführlicher bespielt werden soll. Als Kuratoren hat der am Auftaktabend seine Zirkusbegeisterung vor ausverkauftem Saal bekennende Intendant Thomas Oberender sich die Gründer des ab 26. August zum dritten Mal stattfindenden „Berlin Circus Festivals“ ans Haus geholt – die Artisten Johannes Hillinger und Josa Kölbel.
Den zeitgenössischen Zirkus aus dem Zelt auf die Theaterbühne und damit unter ein kunstaffines Publikum zu bringen, ist Josa Kölbels erklärtes Ziel, wie er bei einem Gespräch vor der Show „Nebula“ im Haus der Berliner Festspiele erzählt. Kölbel, 30, ist ein diplomierter Artist, der Zirkusschulen in den Niederlanden und Frankreich besucht hat – und damit so polyglott wie die ganze, das übliche Festspiele-Publikum am Montag deutlich verjüngende Cirque-Nouveau-Szene. Seine exakt definierten Oberarmmuskeln weisen ihn als Fänger eines Trapez-Duos aus. In Frankreich gebe es 500 Kompagnien, weiß Kölbel, „mehr als 50 Prozent spielen in festen Häusern“ – und erhalten Kulturfördergelder, die ihnen das Entwickeln künstlerisch hochwertiger Programme ermöglichen.
Statt Pudel und brennender Reifen gibt es einen chinesischen Mast
Dass der zeitgenössische Zirkus nicht nur dort und in den seit Jahrzehnten von der freien, mit Theater und Tanz verschmelzenden Darstellungskunst infizierten Ländern Australien und Kanada immer mehr Zulauf hat, steht für Kölbel außer Frage. In Deutschland sei das Zirkus-Bild dagegen mehr von traditionellen Zirkusunternehmen und einer Varietékultur geprägt, deren Nachwuchs in Berlin beispielsweise an der Staatlichen Artistenschule ausgebildet wird und die dann im Chamäleon oder im Wintergarten mit mal mehr, mal weniger klassischen Nummerndarbietungen auftritt. Die wiederum gibt es im Cirque Nouveau eben nicht oder gewissermaßen nur in XXL, wie dann die mit viel Applaus bedachte Produktion „Nebula“ der französischen Formation Compagnie du Chaos belegt.
Im Mittelpunkt der Show, die so ernsthaft ist, dass man sich fast scheut, sie so zu nennen, steht eben kein Pudel, der durch einen brennenden Reifen hüpft oder was der Zirkusklischees mehr sein dürften, sondern einfach ein Chinesischer Mast. Das uralte Zirkusrequisit steht vor einer weißen Leinwand, die die Körpersilhouetten des Brasilianers Rafael de Paula und der Polin Ania Buraczynska betont.
Aus einem mal verhalten dräuenden, mal drohend wummernden Elektrosound und dem durch Windmaschinen verwirbelten und mit Lichtspots strukturierten Bühnennebel formt sich in der Leere die Kulisse für einen Boden wie Luft umfassenden „Paartanz“. Es ist eine rund 50-minütige, choreografierte Bewegungsfolge gegenseitiger Anziehung und Abstoßung, die durch Solos oder Pausen durchbrochen wird, in der die Artisten im Nebel verschwinden oder still auf der Bühne verharren und Atem schöpfen.
Ihre Körperbeherrschung, die absolute Leichtigkeit, mit der sie am Mast in stark verlangsamten Bewegungen hinauf- und heruntergleiten, sich verknäulen und entknoten, ist faszinierend. Ein minutenlanger harter Sound- und Stroboskoplicht-Angriff auf Ohren und Augen dagegen nicht ohne Hand vorm Gesicht auszuhalten. Zumal die dramatisch-düstere Szenerie, die ein kriegerisches Explosionsgewitter suggeriert, so unerklärt in der Gegend steht. Genau das ist die Schwierigkeit und die Schwäche der zu einem Stück ausgeweiteten Darbietung, die im Varieté allein aufgrund der aufzubringenden physischen Kräfte nur maximal zehn Minuten dauert. Irgendwann ist das Bestaunen vorbei, sind die geturnten Muster bekannt und weder die gestisch-mimische noch die tänzerische Präsenz des Akrobatenduos reicht in „Nebula“ aus, um wortlos eine komplexe Geschichte zu erzählen. Dass das aber prinzipiell gelingen kann, dafür ist der Abend ein eindrucksvoller Beweis.
noch mal am 8.3., 19.30 Uhr (mit anschließendem Publikumsgespräch)
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