Venezuela und Gustavo Dudamel: Stardirigent Dudamel appelliert an Venezuelas Regierung
"Ich erhebe meine Stimme": Stardirigent Gustavo Dudamel schwieg bisher zur Krise seines Landes. Nun starb bei Protesten auch ein 17-jähriger Bratscher - und Dudamel bricht sein Schweigen.
Sein Profilbild auf Facebook hat er durch ein Schwarzbild ersetzt, darauf steht nichts weiter als der Name des 17-jährigen Bratschers, der am vergangenen Mittwoch bei Demonstrationen gegen die Regierung Maduro in Caracas ums Leben gekommen ist: Armando Cañizales Carillo. Es ist ein unmissverständliches Statement des Stardirigenten Gustavo Dudamel, der sich zu Venezuelas Politik bislang immer ausgeschwiegen hatte und als Freund der Sozialisten galt - zum Ärger vieler Landsleute.
Jetzt hat Dudamel erstmals sein Schweigen gebrochen. Sein ganzes Leben habe er bislang der Musik und der Kunst gewidmet, als Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern, schreibt er auf Facebook. "Ich erhebe meine Stimme gegen die Gewalt. Ich erhebe meine Stimme gegen jede Form von Unterdrückung. Nichts rechtfertigt Blutvergießen."
Der 36-jährige Maestro, der zu den bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart zählt, ist ein Kind des von Hugo Chávez 1999 begonnenen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ - er dirigierte bei dessen Staatsbegräbnis 2013 und kondolierte gemeinsam mit dessen Nachfolger Nicolás Maduro. Dieses Jahr leitete er unter anderem das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker - als bislang jüngster Dirigent, dem diese altehrwürdige Tradition anvertraut wurde.
Am 1. Juli wird er - nicht zum ersten Mal - die Berliner Philharmoniker in der Waldbühne dirigieren, auch gehörte er zu den Kandidaten, die als Nachfolger für Simon Rattle gehandelt wurden. Derzeit leitet Dudamel das Los Angeles Philharmonic Orchestra. Seine Stimme hat Gewicht, zumal er nicht nur beim Klassikpublikum beliebt ist, sondern auch junge Fans hat, nicht nur in seinem klassikbegeisterten Heimatland, wo er schon mit 18 das Simón Bolivár Symphony Orchestra leitete. Venezuela ist seit vielen Jahren berühmt für seine Programme zur musikalischen Bildung für Kinder und Jugendliche aus allen Schichten. Dudamels Popularität zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Hauptfigur der beliebten Amazon-Prime-Serie "Mozart in the Jungle" über Orchestermusiker in New York von ihm inspiriert ist: Auch der von Gael Garcia Bernal gespielte junge Taktstockstar ist ein temperamentvoller Maestro mit wildem Wuschelkopf.
Dudamel: "Es ist Zeit, auf die Menschen zu hören."
"Wir müssen aufhören, den Aufschrei der Menschen zu ignorieren, die von einer unerträglichen Krise erstickt werden,", schreibt Dudamel weiter. Die Venezolaner seien immer ein kämpferisches Volk gewesen, aber niemals ein gewaltsames. Die einzigen Waffen, die den Menschen für die Sicherung ihrer Zukunft in die Hand gegeben werden könnten, seien Bücher, Pinsel, Musikinstrumente, "kurz: alles, womit die höchsten Werte des menschlichen Geistes verwirklicht werden könnten: das Gute, Wahre und Schöne".
Gustavo Dudamel appelliert dringlich an den Präsidenten und die Regierung seines Lands. "Wir schulden unserer Jugend eine Welt voller Hoffnung und ein Land, in dem wir uns frei bewegen können, auch im Dissens, mit Respekt, mit Toleranz, im Dialog." Der Aufruf des Dirigenten endet mit dem Satz: "Es ist Zeit, auf die Menschen zu hören. Genug ist genug."
Der Tod des 17-jährigen Bratschers hat das krisengebeutelte Land einmal mehr aufgerüttelt. Misswirtschaft, Einbruch der Öleinnahmen, hohe Verschuldung und die weltweit höchste Inflation haben die Gewalt eskalieren lassen, in den letzten Wochen starben 37 Menschen, viele fürchten einen Bürgerkrieg. Gustavo Dudamel war scharf dafür kritisiert worden, dass er lange kein Wort über die dramatische Entwicklung in seinem Heimatland verlor.
Nun nahm er selbst an der Beerdigung von Armando Cañizales Carillo teil. Bei der Trauerfeier (hier ein weiteres Video dazu auf http://www.el-nacional.com) spielten hunderte Jugendliche aus Cañizales' Jugendorchester Beethoven zu dessen Ehren, und zwar den zweiten Satz aus Beethovens Siebter Sinfonie, die Beethoven den antinapoleonischen Kämpfern nach der Leipziger Völkerschlacht gewidmet hatte. Der Vater des erschossenen Musikers übergab Dudamel dessen Instrument. Der bislang politisch als Opportunist geltende Dirigent steht nun solidarisch an der Seite der Regierungskritiker. (mit dpa)