Berliner Philharmoniker: Wuschelköpfe
Hat der 32-jährige Gustavo Dudamel das Zeug dazu, 2018 Sir Simon Rattles als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker zu beerben? Jetzt war der Dirigent aus Venezuela mit Werken von Schubert, Beethoven und Strawinsky bei dem Orchester zu Gast.
Die Gruppe der Favoriten ist kleiner geworden. Zur Saison 2018/19 müssen die Berliner Philharmoniker einen Ersatz für Simon Rattle finden, aber schon in knapp zwei Jahren wollen sie sich auf einen Namen festlegen. Weil die wichtigen Dirigenten ihre Terminkalender nun einmal mit großem zeitlichen Vorlauf füllen. Andris Nelsons allerdings, der vielleicht heißeste Kandidat, hat gerade einen Vertrag mit dem Boston Philharmonic Orchestra unterschrieben. Damit scheidet er ebenso aus wie Riccardo Chailly, der nicht nur seine Zusammenarbeit mit dem Leipziger Gewandhaus verlängert hat, sondern auch Nachfolger Daniel Barenboims an der Mailänder Scala wird. Christian Thielemann schließlich wird zwar von vielen wegen seiner altmodischen Kapellmeisterlichkeit geschätzt, von ebenso vielen aber auch aufgrund seines schwierigen Charakters gefürchtet.
Bleiben als konsensfähige Chefdirigenten eigentlich nur noch zwei Künstler übrig: der Langzeithausfreund Barenboim und Gustavo Dudamel. Seit 2008 ist der Venezolaner regelmäßig Gast bei den Berlinern, und er hat sich in dieser Zeit vom entwaffnend naiven Springinsfeld zum ernst zu nehmenden Interpreten entwickelt. Wer Dudamels letzten Auftritt im Januar erlebt hat, erinnert sich an einen beglückenden Abend mit einem intensiven Barber-„Adagio“ und zwei brillant genommenen Strauss-Tondichtungen.
Am Donnerstag nun also tritt der 32-Jährige zu einem weiteren Probedirigat an – und in der ausverkauften Philharmonie passiert zunächst dasselbe wie draußen vor der Tür. Nämlich nichts. Der angekündigte Sturm bleibt aus, geradezu windstill geht Schuberts 4. Sinfonie über die Bühne. Warum das Werk den Beinamen „Tragische“ hat, bleibt hier schleierhaft. Der langsamen Einleitung des Kopfsatzes fehlt Binnenspannung, harmlos schnurrt das Allegro vivace ab. Der langsame Satz entfaltet sedierende Wirkung, erdschwer bleibt das Menuett, im geschäftigen Finale geht keinerlei Impuls von den Mittelstimmen aus. Da mag Dudamels Rückenansicht noch so sehr an Sir Simons Wuschelkopf vor dem Ergrauen erinnern – so wird man kein Rattle-Erbe!
Zum Glück gewinnt der Abend nach der Pause an Fahrt, bei den witzigen Miniaturen aus Igor Strawinskys 2. Suite für kleines Orchester sieht man erstmals einige der Philharmoniker lächeln. Auch Beethovens Vierte beginnt mit einer Adagio-Introduktion, aber jetzt ist die Konzentration da, die atmosphärische Dichte, jetzt macht der rätselhaft sich entfaltende Klang neugierig aufs Kommende. Mit jugendlichem Schwung schreitet Dudamel voran, kanalisiert die Energieströme, macht Steigerungen erlebbar, kurz, lässt eine Musik entstehen, die dem Publikum nahegeht, weil sie ihm entgegenkommt, in Form von emotional aufgeladenen Schallwellen. So fühlt sich der Hörer mitgenommen, eingebunden in die Bühnenkommunikation. Erleichterter Applaus. Frederik Hanssen