Vladimir Jurowski: So macht man das Publikum zum Komplizen
Mit Vladimir Jurowski wird ein charismatischer Dirigent Chef des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Und er hat viel vor. Jetzt hat er seine Pläne präsentiert.
Künstler, bilde, rede nicht! Gerade unter Dirigenten gibt es gar nicht so wenige, die sich gerne hinter dem Goethe-Diktum verschanzen. Dem legendären Claudio Abbado war selbst bei Pressekonferenzen kaum mehr als der eine Satz abzuluchsen, er wolle „einfach schöne Musik“ machen, sein Nach-Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern, Kirill Petrenko, lehnt seit Jahren kategorisch Interviews ab. Und auch Marek Janowski, der langjährige Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, äußerte sich in der Öffentlichkeit nur, wenn es gar nicht zu vermeiden war. Vladimir Jurowski ist da anders. Bei der Präsentation seiner ersten Spielzeit als RSB-Chefdirigent verführte er die Medienvertreter förmlich durch seine Eloquenz. Was er da über seine künstlerischen Leitlinien wie auch über die konkreten Programme der Saison 2017/18 sagte, war so durchdacht, so bezwingend formuliert, dass die Vorfreude auf die Ära Jurowski unter den versammelten Fachleuten geradezu euphorische Züge annahm.
Was seine musikalische Ausbildung betrifft, ist der 1972 Geborene im bestmöglichen Umfeld groß geworden. Er entstammt einer russischen Künstlerdynastie, der Großvater war Komponist, sein Vater Michael wird als Dirigent international geschätzt. Kindheit und Jugend verbrachte Vladimir in den Opernhäusern und Konzertsälen von Moskau, mit der Übersiedlung der Familie nach Berlin begann er ein Studium an der Eisler-Musikhochschule, an dessen Ende er 1996 nicht nur ein Diplom in der Tasche hatte, sondern auch sein erstes Engagement. Direkt um die Ecke, an der Komischen Oper, wo er vom 2. Kapellmeister bald zum 1. aufstieg – und vor allem im italienischen Fach einen so nachhaltigen Eindruck hinterließ, dass er sich kaum vor Angeboten für Gastdirigate retten konnte.
Er ist alles andere als geltungssüchtig
Besonders Großbritannien lockte ihn, 2000 wurde er musikalischer Leiter beim noblen Opernfestival von Glyndebourne, 2006 machte ihn das London Philharmonic Orchestra zum Chef. Dort wird er noch bis 2020 bleiben, parallel zu seinem neuen Berliner Job – und seiner engen Beziehung zum Moskauer Swetlanow-Orchester. Drei Orchester gleichzeitig zu führen, sei nicht sein Ziel gewesen, betont Vladimir Jurowski beim Gespräch in der schummrigen Kantine des Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Und man glaubt es sofort. Denn geltungssüchtig wirkt er wirklich nicht. Nein, es sind gute künstlerische Gründe, die ihn zu diesem Triple bewogen haben. Und im Fall von Berlin auch private: Schließlich ist seine Familie hier, die Eltern, die Schwester, vor allem aber seine Ehefrau und die beiden Kinder. Besonders Jurij, den Jüngsten, hat er in den letzten Jahren selten gesehen.
Mit dem Wechsel von einem 78-Jährigen zu einem 45-Jährigen hat das RSB nun auch auf der Leitungsebene den Generationswechsel vollzogen, den es in den eigenen Reihen bereits hinter sich hat. Das Alter der Musiker liegt im Schnitt derzeit sogar unter dem ihres neuen Chefs. Künstlerisch übernimmt Vladimir Jurowski ein Ensemble in Top-Form, das aber nach 13 intensiven Jahren mit dem Präzisionsarbeiter Marek Janowski auf neue künstlerische Impulse brennt.
Die es bekommen dürfte. Und zwar musikwissenschaftlich fundiert – denn Jurowski ist einer, der sich gerne in Bibliotheken über Handschriften beugt – , vor allem aber in der Praxis. Vladimir Jurowski beim Dirigieren zuzuschauen, ist faszinierend. Nicht allein, weil seine Gestik wirklich spricht, sondern auch, weil der Maestro mit der schwarzen Mähne mit den Werken seine Aura zu wechseln scheint, mal dämonisch und mal mönchisch wirkt, ebenso Mephisto sein kann wie ein Wiedergänger des reifen Franz Liszt.
Das Mythische in der Musik
„Ein wenig mythisch ist das Musikmachen schon“, sagt er. „Aber nicht im Sinne von Weihrauch oder Duftstäbchen – sondern als lebendige Alchimie.“ Und dann erzählt er von einem Abend in der riesigen Royal Albert Hall in London, wo er mitten in einer Schostakowitsch-Sinfonie plötzlich spürte, wie 6000 Menschen kollektiv den Atem anhielten: „Das ist es, wofür man als Musiker lebt!“
In seiner ersten Saison stellt Jurowski zwei Komponisten in den Mittelpunkt, die er sich lange aufgespart hat. Seine erste Mahler-Sinfonie dirigierte er mit 35, an Beethovens Neunte wagte er sich erst mit 40. Jetzt geht es ihm um Wechselwirkungen zwischen den Musiktitanen: Beethovens Partituren stellt er in der Bearbeitung durch Gustav Mahler vor, in dessen zweiter Sinfonie wiederum wird er nach dem Einfluss des Klassikers forschen.
Durch solche Gedankenspiele möchte der Dirigent „das Publikum zum Komplizen machen“. Oder auch dadurch, dass er Stücke direkt ineinander übergehen lässt – denn er ist davon überzeugt, dass man das zweite dabei ganz anders höre. „Ständiger Gast“ in seinen Abo-Konzerten sollen außerdem die Zweite Wiener Schule sowie Zeitgenössisches sein, mittelfristig will er Schlüsselwerke von DDR-Komponisten neu zur Diskussion stellen. „Programmplanung ist wie Schach“, findet Jurowski: „Es kommt darauf an, immer drei, vier Schritte vorauszudenken.“
„Bevor wir im Herbst so richtig loslegen, zeigen wir uns aber noch einmal ganz traditionell“, fügt er lachend hinzu und meint damit sein letztes Konzert als RSB-Gastdirigent am morgigen Donnerstag: Da geht es in der Philharmonie tatsächlich ausschließlich schwelgerisch- spätromantisch zu, mit Werken von Josef Suk, Antonin Dvorak und Johannes Brahms.